Schwarz-Weiß (Teil 2)

Dieser Eintrag ist Teil 2 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

War ja klar, alle gaffen. Ich könnte jetzt schon kotzen gehen, ohne dass ich was gegessen habe. Dieses ohne Grund Hier-Sitzen-Müssen, ist schon reinste Schikane. Alles wegen Florian? Ich weiss nicht, mein Kopf tut weh und eigentlich möchte ich nur schlafen. Alle essen und irgendwie kriege ich jetzt auch Hunger, aber Florian der Psycho guckt mich schon wieder an. Nein, ich habe wohl doch keinen Hunger mehr. „Sollen wir gleich Fernsehn oder willst du lieber Skip Bo spielen?“ fragt mich Ute. Ute ist eine kleine rothaarige Turbotante, die alles toll findet, nur sich selbst wohl nicht. „Ich glaube ich lese lieber ein bisschen oder so“, antworte ich ihr, ohne sie anzusehen. Im Heim läuft alles etwas anders, man ist mehr auf sich allein gestellt. Niemand wird sofort analysiert oder ausgefragt, man lebt so dahin. Mal gut, mal schlecht, besonders wenn einen niemand mag. Mich mag niemand. Und hier auf der Station wird man total überwacht und beobachtet. „Wo willst du hin?“ „Ich hab dir doch gesagt, ich gehe lesen oder so.“ Wieder diese Ute. Kapiert einfach nichts. Gestern hab ich sie dabei erwischt, wie sie am Fenster geraucht hat. Ich hab nichts gesagt, eigentlich gibt es ja auch schlimmere Sachen. Für die bin ich dann zuständig, für die richtig schlimmen Sachen…

Als ich die Tür öffne, steht er mitten auf dem Gang. Auf dem Weg zu meinem Zimmer. Wie ein Insekt schaut er mich an mit seinen riesigen Augen. Warum kann dieser Idiot sich nicht verpissen? Ein schelmisches Grinsen in seinem Gesicht. Wie gern ich ihm die Kehle zudrücken und zusehen würde, wie sein Kopf rot anläuft… Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, aber plötzlich werde ich von hinten fest umarmt. Schon wieder dieses schreckliche Mädchen. Diese Ute. „Wir wollen Monopoly spielen. Spielst du mit?“ Diese fürchterliche Stimme. Warum muss sie immer so brüllen? Besonders, wenn sie neben mir steht. „Ich habe doch bereits gesagt, ich möchte lesen.“ Genervt löse ich mich aus ihrem Griff und gehe weiter, ohne sie anzusehen. Wie gern ich ihr weh tun würde. So wie damals, Stefan. Er konnte nicht aufhören zu reden.
Da hab‘ ich ihm das Maul gestopft. Na gut, nach einer Woche durfte er wieder aus dem Krankenhaus, aber er wird sich sein Leben lang dran erinnern – zumindest, wenn er in den Spiegel sieht. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Entschlossen schreite ich an Florian vorbei, der immer noch dasteht und blöd guckt. Ich lege mich aufs Bett, nehme das Buch von meinem Nachtschränkchen und ehe ich mich versehe, bin ich auch schon in einer anderen Welt.

Lautes Klopfen schreckt mich auf und genervt lasse ich das Buch sinken. „Was ist denn jetzt schon wieder los?!“, schreie ich die Tür an. Johannes steckt seinen Kopf zur Tür herein und schon bei seinem Anblick kriege ich schlechte Laune.
„Wir müssen reden“, sagt er und starrt mich an. „Wieso? Was ist denn los?“ „Komm einfach in mein Büro, dann reden wir.“, sagt er und zieht die Tür einen Spalt breit hinter sich zu. Ich ahne schon, was er vor hat. So eine Art Therapiestunde. Ein bisschen rumstochern, ein bisschen nerven eben, sonst nichts, nur nerven. So wie damals zu Hause. Endloses Ausfragen. Wie geht’s dir, wo warst du, wo gehst du hin, mit wem warst du unterwegs und so weiter, und so fort. Aber was bleibt mir übrig, ich muss mitspielen, wenn ich nicht wieder ins Heim will. Dieses elendige Drecksloch, in das meine Mutter mich gesteckt hat. Aber so wird man halt seine Probleme los. Bin ich ein Problem? Ja, jetzt bin ich ein Problem, ein großes sogar. Und ich will auch ein Problem sein. Euer Aller Problem! Langsam stehe ich auf und gehe über den langen Flur. Ich stehe vor der Tür des Psychiaters und zum ersten mal in meinem Leben weiß ich genau, was ich tun muss. Meine Hände zittern und die Schere in meiner Hand fühlt sich ganz heiß an. Ich drücke die Türklinke runter und plötzlich habe ich keine Gedanken mehr.

Im nächsten Moment spüre ich einen Stoß in die Seite und stürze zu Boden. „Du Vollpfosten! Was soll der Scheiß schon wieder?“, schreie ich Florian an, der mich mit starren Augen ansieht. „Ich habe dich gefragt, was die Scheiße soll, du Idiot!“ – er steht nur stumm da und guckt! Ich will aufstehen und vernehme ein starkes Brennen im Unterleib.
Ich sehe an mir herunter und entdecke die Schere, die ich noch eben in der Hand hielt. Sie steckt oberhalb meines rechten Hüftknochens bis zur Hälfte in meinem Körper. Auf meinem Shirt bildet sich ein roter Fleck. Jetzt werde ich RICHTIG sauer. „Du Arschloch! Das war mein Lieblingsshirt! Ich mach dich fertig!“ Ich ziehe die Schere aus der Wunde, stehe langsam auf und humpele auf wackligen Beinen, jedoch die Schere fest in meiner Hand auf ihn zu.

Ich spüre einen festen Griff an meiner Hand und drehe mich ruckartig um. – Nur um im nächsten Moment Johannes ins Gesicht zu sehen. „Lilly! Was ist hier los?!“ „Florian, der Penner, hat mein Shirt dreckig gemacht, jetzt kann ich es wegschmeißen!“ Er schaut besorgt auf den Blutfleck, der langsam größer wird. Johannes hebt mich hoch – „Was soll das?!“ Florian glotzt immer noch scheiße – wie immer. Ich schaue aufgebracht zwischen Florian und Johannes hin und her. Mit seinen sanftmütigen, stahlend-grünen Augen sieht Johannes mich an, blickt wieder auf, öffnet mit dem Ellenbogen die Tür zum Krankenzimmer, das genau neben dem Besprechungszimmer liegt, und platziert mich vorsichtig auf die Liege. Mir ist schwindelig… Nur für einen kurzen Moment die Augen schließen…

Geschirrgeklapper reißt mich aus dem Schlaf. Habe ich denn geschlafen, habe ich etwa alles nur geträumt? Ich sehe mich in dem Raum um und stelle erstaunt fest: ich bin in einem Krankenhaus, aber warum? Auf dem Nachttisch stehen Blumen und auf dem einzigem Stuhl, direkt neben meinem Bett sitzt… Oh nein, was will der Penner denn hier? Ich schließe meine Augen und hoffe, das alles nur meiner kranken Phantasie entsprungen ist. Plötzlich geht die Tür auf und ein Arzt kommt herein. Also doch ein Krankenhaus. „Würden Sie uns einen Moment allein lassen?“ Florian steht auf und ohne ein Wort verlässt er das Zimmer. Der Arzt kontrolliert die Infusion und sieht sich meine Akte an. „Weißt du, wie das alles passiert ist? In deinem Bauch war ein ziemlich tiefes Loch – aber wir haben dich wieder zusammengeflickt. Also,wie ist das passiert?“ „Es war wohl ein Versehen“, sage ich. Aber glaube ich das wirklich? „Ok, ein paar Tage wirst du wohl hier bleiben müssen, ich hole deinen Besuch jetzt wieder rein“. Mit gesenktem Kopf erscheint Florian und setzt sich wieder auf den Stuhl. „Du hast mein Bandshirt kaputt gemacht.“, sage ich ohne ihn anzusehen. Er drückt mir ein Päckchen in die Hand, steht auf und geht. Was für ein bekloppter Typ. Ein totaler Vollpfosten. Ich reiße das Päckchen auf und muss augenblicklich würgen. Was ist denn das? Mir ist so schlecht, dass ich nach der Schwester klingeln muss.
Schweißgebadet drücke ich ihr das Päckchen in die Hand. Sie schaut mich erst fragend an, legt das Paket unbeeindruckt an die Seite und geht wortlos aus dem Zimmer.

Ein kalter Schauer überkommt mich. Ich schaue auf und merke erst jetzt, dass jemand mit mir redet. „Lilly? Ist alles in Ordnung? Du bist so blass…“ Johannes öffnet nun die Tür komplett und sieht mich an. „Lilly?“ „Oh… ähm… Ich wollte die Schere zurückgeben, die ich mir von Ihnen geliehen habe!“ Meine Hände fühlen sich schweißig an. Ich drücke ihm die Schere in die Hand, drehe mich um und gehe. „Würdest du dich einen Moment in meinem Büro hinsetzen und mit mir reden?“ Genervt drehe ich mich um und trotte in das Besprechungszimmer. Ich ziehe den Stuhl zu mir und setze mich hin. Er hat einen roten Bezug. Komischer Stoff, fühlt sich irgendwie kratzig an, aber gleichzeitig auch angenehm… Ich mag diese Stühle nicht. Ich fühle mich wie bei einem Verhör. Nicht wegen dem Stuhl, eher wegen der großen Stehlampe einen Meter daneben. Aber bei dem Stuhl bekommt man immer das Gefühl, man würde in der Mitte des Raums sitzen – Gegenüber des Tisches, hinter dem ein Richter oder so was sitzt, der mit diesem Holzhammer in der Hand über einen urteilt. Johannes hat bereits die Tür geschlossen, setzt sich auf seinen Ledersessel auf der anderen Seite seines großen Schreibtischs und mustert mich. Es fehlt nur noch die Richterperücke und der komische Holzhammer…

Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmt.
„Was gibt es denn so Wichtiges zu bereden?“, frage ich, ohne Johannes anzusehen. „Wann hast du zum letzten Mal deine Medikamente wirklich eingenommen? – oder hast du sie überhaupt schon mal genommen, seit du hier bist?“
Vorwurfsvoll sieht er mich an und schüttelt langsam den Kopf, während er in meiner Akte blättert. „Ich habe von deiner Betreuerin gehört, du hättest Halluzinationen gehabt. Und langsam glaube ich, dein Krankheitsbild hat sich zum Negativen hin verschlechtert. Du bist eine Gefahr für dich selbst und für deine Umwelt. Einige deiner Mitbewohner haben regelrecht Angst vor dir. Entweder du arbeitest mit in dieser Therapie oder wir müssen uns was anderes überlegen.“ Ach du Scheiße. Wieso weiß der, dass ich die Pillen nicht nehme?! Irgendwer hat ihm das doch gesteckt. Das kann doch nur der Florian gewesen sein, die anderen sind doch viel zu blöd dazu. Und überhaupt, es ist doch nichts passiert, es war doch nur ein kurzer Blackout. Kann doch bei jedem mal vorkommen. Plötzlich wird mir ganz seltsam, wieso redet Johannes jetzt in Zeitlupe. Will der mich verarschen? Was ist hier los? Der Stuhl, dieser scheiß rote, kratzige Stuhl. Langsam bereue ich, dass ich meine Tabletten nicht genommen habe… Ich bin festgebunden und der Typ hat eine blutige Schere in der Hand. Ich kriege plötzlich keine Luft mehr und auf dem Schreibtisch vor mir steht ein Päckchen mit meinem Namen drauf. Darauf steht : „In Liebe, von Florian.“

Ich kann den Blick nicht von dem Päckchen abwenden. Ganz langsam öffnet es sich wie von Geisterhand und plötzlich purzeln endlos viele Augen heraus. Nach wenigen Momenten liegen sie auf dem Tisch, auf dem Boden, einfach überall. Sie starren mich an, als könnten sie in mich hineinschauen. Ich versuche, mich zu zwingen, mich zu bewegen, aber ich schaffe es nicht. Nicht mal zu blinzeln. Mein Kopf wird sanft, aber bestimmt, zur Seite gedreht und ich sehe Johannes vor meinem Gesicht. „Lilly?! Was ist los mit dir? Hörst du mir überhaupt zu?!“ „Ja… äh… ich habe nur über was nachgedacht.“ Was war das schon wieder für eine Scheiße? Bin ich jetzt total bekloppt? Ich starre auf die Stelle, an der eben noch das Päckchen lag. – Nichts. „Ab jetzt wird sich deine Betreuerin, Mechthild, persönlich darum kümmern, dass du deine Medikamente nimmst. So kann das nicht weitergehen.“ Ich nicke. „Übrigens… nächste Woche ist Weihnachten. Ich habe mit deiner Mutter gesprochen und sie möchte, dass du über Weihnachten nach Hause kommen sollst…“ „Was?!“ Ich muss mich zusammenreißen um nicht auszurasten. Warum soll ich nach Hause kommen? Damit sie mich quälen kann?! Die mach‘ ich fertig. „Ja, ich halte das gar nicht mal für eine schlechte Idee. Sie möchte aber vorher noch mal persönlich mit dir reden. In etwa einer halben Stunde müsste sie hier sein…“

Ich komme in meinem Zimmer an… Okay, eine halbe Stunde Zeit bis meine Mutter kommt, meine Gedanken überschlagen sich und mir ist kotzübel. Diese Übelkeit habe ich schon fast…, ja, wie lange eigentlich schon? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Die Zeit vergeht viel zu schnell und schon klopft es an meine Tür. „Lilly?! Kommst du? – deine Mutter ist im Besucherraum.“ „Sofort. Noch fünf Minuten“, ich weiß nicht, ob ich es laut gesagt habe, aber hinter der Tür ist es jetzt still. Hastig renne ich ins Bad, ich muss kotzen. Am liebsten würde ich jetzt abhauen. Aber wohin und wie …? Ich bin wie erstarrt. Ich wische mir den Mund ab, spüle ihn aus, kämme meine Haare und gehe in den Besucherraum. Da sitzt sie und lächelt mich an, aber nur ihr Mund lächelt, ihre Augen nicht. Diese Frau ist mir fremd und ich versuche zu begreifen, dass diese Frau meine Mutter ist. „Hi“, mehr oder etwas besseres fällt mir nicht ein. „Hallo, mein Schatz“, sagt sie und sieht mich mit diesem vorwurfsvollem Blick an. Ich setze mich an den Tisch und warte. Ich nutze die Zeit um sie mir genauer anzusehen. Sie hat sich aufgedonnert, Lippenstift, orange-rot gefärbte Haare, schickes Outfit. Ich kenne sie anders – ganz anders.

„Leider habe ich nicht viel Zeit, ich wollte dich nur fragen, ob du zu Weihnachten nach Hause kommen möchtest?“
Sie fragt mich tatsächlich, was ich möchte. Dieses verlogene Biest… Nervös knetet sie ihre Finger und sieht mich fragend an. „Weiß nicht. Muss ich?“, frage ich, ohne sie anzusehen. Meine Gedanken überschlagen sich, mir kommen die Schläge, die Demütigungen und all die Wut und der Hass in den Sinn. Einfach alles,was sie mir angetan hat.
Meine Wut wird immer stärker, ich möchte sie leiden sehen, so wie ich all die Jahre gelitten habe. In meinem Kopf beginnt es zu rauschen, mir ist übel, die Schere in meiner Hand macht mich stark. Langsam stehe ich auf, die Schreie sind unerträglich.

Ich schließe die Augen. Dieses Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Dann wird es leise… Ich öffne die Augen und sehe sie an. Alles ist plötzlich so klar. „Worauf wartest du, Schwachkopf?“, sage ich zu mir selbst. Ich packe die Schere so fest, dass meine Hand anfängt zu zittern. Langsam gehe ich auf meine Mutter zu. Ich will ihren leblosen Körper sehen. Ihre Schreie hören. Sie an die Wand nageln. Ich will ihr ihre Gedärme aus ihrem widerlichen Körper reißen, ihr verdorbenes Herz aus ihrer Brust reißen, es in meiner Hand halten und es zerdrücken. Ich will sie leiden sehen. So sehr… Meine Sicht verschwimmt. Warum muss ich nur schon wieder heulen? Ich bin… schwach… jämmerlich… Sie umarmt mich fest und ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich hasse sie. Und trotzdem liebe ich sie irgendwo… – meine Mutter. „Ja, du musst.“, sagt sie liebevoll und streicht mir zärtlich eine Träne von der Wange. Die Schere fällt zu Boden und ein paar einsame Bluttropfen folgen ihr.

Sie lässt mich los und plötzlich wird mir eiskalt. „Also dann, bis morgen“, sagt sie und streicht mir nochmal über mein Haar. Als sie gerade gegangen ist, haste zur Tür und renne in mein Zimmer, endlich allein. Hektisch durchsuche ich die Kommode, da ist es ja, mein Taschenmesser, gut versteckt. Unaufhörlich laufen mir die Tränen über das Gesicht. Das starke Brennen; das warme Blut an meinem Bein… Eine Erlösung, ich kann mich wieder fühlen, ich bin noch da, ich lebe, ich bin… Es klopft an der Tür. „Lilly?“, das ist die Stimme von Mechthild, meiner Betreuerin. Hektisch ziehe ich meine Hose hoch und verstecke das Messer wieder in der Schublade. „Ja!?, was ist denn?“ Schon steht sie im Raum und lächelt mich an. „Na, fährst du morgen nach Hause?“ „Denke schon“, antworte ich ohne sie anzusehen. Eigentlich mag ich sie ja, diese kleine, dicke, immer fröhliche Frau. „Möchtest du darüber reden?“, fragt sie und sieht mich erwartungsvoll an. „Nein, eigentlich nicht oder müssen wir?“ „Nur wenn du willst. Du weißt ja wo ich bin“, sagt sie und geht.

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