Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich überhaupt bin. Was macht mich aus? Dass ich gestört bin? Meine Diagnosen? Mich überkommt das Gefühl, dass ich mit Johannes reden sollte. Aber ich will nicht. Ich will nicht auf die Erwachsenenstation. Ich will nicht in die geschlossene Anstalt. Langsam spüre ich, wie mich ein tiefer Hass überkommt. Hass auf mich selbst. Hass auf alle, die mich für gestört halten. Hass auf meine Mutter, dafür, dass sie mich in die Klapse gesteckt hat. Hass auf meinen Vater, weil er mich allein gelassen hat.Im Spiegel sehe ich dieses Mädchen. Das bin ich. Meine Augen rot und leicht geschwollen vom Weinen. Ich balle meine Faust. Ich bin nicht gestört! Ihr anderen seid alle gestört!
„SCHEIßVEREIN!“ brülle ich so laut wie ich kann und schlage gegen die Wand. Zuerst überkommt mich ein stechender Schmerz in der Hand, der langsam in einen dumpfen Schmerz übergeht. Dumpf. Warum ist alles so dumpf? Alles erscheint so fern. Meine Gedanken, meine Gefühle, mein Ich. Als hätten fremde Kräfte die Oberhand über meinen Kopf und meinen Körper erlangt. Als sei mein wahres Ich irgendwo ganz tief in mir drin eingesperrt. Mein Blick wandert zu meiner noch immer geballten Faust. Ein paar einsame Tropfen Blut fallen zu Boden. Ich gehe vom Bad wieder ins Zimmer und laufe auf und ab. Dann erinnere ich mich an das, was mir in der Therapie beigebracht wurde. Tief atme ich durch. Ich versuche, all meinen Stress und meine Wut einfach herauszuatmen. Ich schließe die Augen und versuche mich zu konzentrieren. Ich lege all meine negativen Gefühle in meine Lunge und atme sie einfach aus… Frische Luft und positive Energie ein. Verbrauchte Luft und negative Energie aus. Ein… und aus.
„WARUM FUNKTIONIERT DIE SCHEIßE NICHT?!“ Ich nehme den Stuhl und werfe ihn mit aller Gewalt so fest wie ich kann gegen die Wand. Holzstücke fliegen durch das ganze Zimmer. Ich nehme ein abgebrochenes Stuhlbein und schlage immer weiter auf die Sitzfläche ein, an der nur noch ein abgebrochenes Stuhlbein und die halbe Lehne hängt.
Nach kurzer Zeit sacke ich erschöpft auf den Boden. Heiß und brennend laufen Tränen über mein Gesicht. Plötzlich werde ich auf die Beine gehoben und umarmt. Es ist Kai. Kai… er hat mich noch immer nicht aufgegeben. Sicher denkt er jetzt, ich sei komplett gestört. Ich presse ihn fest an mich und schluchze. Fest kralle ich mich in sein Shirt und versuche mein Gesicht in seinem Hals und seiner Schulter zu vergraben. Noch nie konnte ich mich so wenig beherrschen, zu weinen.
Er sagt nichts. Er umarmt mich einfach nur und streichelt meinen Rücken. Selten habe ich ein so schönes Gefühl gehabt. Als sei ich in einer anderen Welt. In einer Welt, in der alles gut ist. Eine Welt, in der Kai mein Freund ist. Nicht nur ein Bekannter aus der Klapse, sondern mein fester Freund. Eine Welt, in der ich in der Schule klarkomme, mein Vater und meine Mutter glücklich zusammenleben. In der ich mich mit meinem Bruder und dem Rest meiner Familie verstehe. Ich will nicht mehr so sein… Aber wie bin ich denn überhaupt?
Ich frage mich, was früher meine Träume waren. Früher in meinem anderem Leben. Als ich noch ein kleines Kind war, zehn oder noch jünger. Da muss ich doch Träume gehabt haben, so wie jedes Kind. Ich versuche mich zu erinnern und irgendwie fühle ich mich plötzlich wieder so klein. An der Hand meines Vater durch den Wald laufen. Ein Eis essen, all die schönen Dinge, die man in Erinnerung behält, wenn man erwachsen wird. Leider bin ich noch nicht wirklich erwachsen, obwohl ich es oft glaube. Mein Alter war für mich noch nie wichtig. Nie habe ich mich über meinen Geburtstag gefreut. Ich wollte nie einen Geburtstagskuchen oder eine Party. Keine Geschenke, oder einem Clown.
Ich hasse Clowns.
Dieser große, rot geschminkte Mund, diese blöde rote Perücke, ich hasse Sie. Eigentlich will ich mich doch nicht an meine Kindheit erinnern, richtig schön war es nie. Und das, was ich noch genau weiß, macht mir nur Angst. Über mein Alter nach zu denken macht mir noch mehr Angst, denn so oft verschiebt sich die Realität. Meine eigene Realität. Oder ist es vielleicht die reale Realität? Sollte ich nicht in die Erwachsenen Abteilung? Nur ein paar Meter weiter?
Oder bin ich doch noch zu jung dafür? Ob ich Johannes wohl fragen kann, wie alt ich in seiner Realität bin? So eine Scheiße, ich denke schon wie eine Irre… Meine Ängste machen mir schwer zu schaffen und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.
Vielleicht kann Kai mir helfen mich wieder zurecht zu finden. Wieder mein Leben zu finden. Ein Leben ohne Tabletten, ein Leben was mir gehört, was ich verstehe. Und wo ich Ich sein darf. Ganz ohne Angst, ohne Blut und ohne Tränen. Oft denke ich nur an Kai. Ein schönes Gefühl und ich glaube mit ihm kann ich alles schaffen. Ein lautes Hämmern an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich reagiere nicht und klammere mich noch immer an Kai. Er lässt von mir ab und entfernt sich ein paar Schritte von mir. „Bleib bei mir!“, will ich am liebsten rufen, aber in dem Moment wird die Tür aufgerissen. Die Angst ist eben wieder hereinspaziert. Durch meine Tür, in mein Leben, in meine eigene Realität.
Wieder diese hässliche Fresse von dieser blöden Kuh. Sie schaut ernst drein und zieht eine Augenbraue hoch. „Was ist denn hier los?“ „Äh… nichts“, stammele ich. „Kai, geh bitte. Ich möchte mit Lilly allein reden.“ Kai sieht kurz zu mir rüber.
Ich schaue ihn traurig an. Er erwidert kurz den Blick, legt für einen kleinen Augenblick leicht den Kopf schief, setzt dann eine ernste Miene und geht mit leicht gesenktem Blick. Mechthild folgt ihm mit ihrem Blick. Als sich die Tür schließt, wendet sie sich mir ruckartig zu. „Lilly, ich möchte, dass du mir auf der Stelle erklärst, was hier los ist.“ Diese Frau… ich frage mich, wie sie die täglichen Mordanschläge überlebt, die ihre Mitmenschen wahrscheinlich auf sie verüben, wenn sie bei denen auch nur ansatzweise so ist wie bei mir.
„Ich äh… Ich kann nicht schlafen.“ „Und was hat das Chaos hier zu bedeuten? Es ist Nachtruhe. Andere schlafen schon.“ Man hört einen aggressiven Unterton in ihrer Stimme, den sie versucht zu unterdrücken. „Weiß nicht“, ich spüre, wie sich alles in mir sträubt, diese Unterhaltung fortzusetzen. Warum kann sie nicht einfach weggehen? „Es wäre besser für dich, wenn du jetzt schlafen gehst. Ich werde Johannes von diesem Vorfall berichten. Natürlich auch davon, dass Kai hier war, obwohl er hier drin nichts zu suchen hatte. Für ihn wird das entsprechend auch Folgen haben.“ „Aber…“
„Kein Aber. Gute Nacht, Lilly.“ Sie geht. Einfach so. Endlich wieder allein. In den ganzen Trümmern. Wieso ist so eine Frau meine Bezugsperson? Ich will nicht, dass das Folgen für Kai hat. Dann will er bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich verkrieche mich unter die Bettdecke und mir steigen wieder Tränen in die Augen.
Plötzlich werde ich aus dem Schlaf gerissen. Die Tür geht auf, kracht gegen die Wand und hinterlässt eine deutlich sichtbare Spur. Der elfenbeinweiße Putz bröckelt ein wenig ab. Das letzte Mal, als zwei Dinge so heftig kollidierten, hat dies wahrscheinlich für das Aussterben der Dinosaurier gesorgt. Sofort bekomme ich stechende Kopfschmerzen. „Hey Bitch, hast du vielleicht ’ne Kippe für mich?“, sagt eine mir unbekannte, weibliche Stimme. Ich drehe mich zur Wand. „Verpiss dich.“ Die Tür schließt sich. Ich merke, wie sich jemand neben mir aufs Bett setzt. „Bitte… nur eine.“ Sie klingt traurig. Bettelnd. Ich drehe mich leicht und schaue sie an. Sie ist klein. Geschätzt einen Kopf kleiner als ich und ich bin ja schon nicht die größte. Glatte, dunkelbraune, schulterlange Haare, blaue Augen. Schelmisch grinst sie mich an. „Wer bist du überhaupt?“ „Ich sag’s dir, wenn du mir eine Kippe gibst.“ „Geh mir nicht auf den Sack. Verpiss dich einfach.“ „Komm schon, Kleines. Sei kein Frosch.“ Die Tür öffnet sich erneut. Ute kommt rein.
Als ich sie sehe, werde ich augenblicklich richtig sauer. „WAS WOLLT IHR ALLE VON MIR?! LASST MICH DOCH MAL IN RUHE!“ Ute läuft augenblicklich rot an und verlässt wieder das Zimmer. Es fängt direkt an, mir leid zu tun, sie angebrüllt zu haben. Sie war immer nett zu mir. Bestraft werde ich direkt mit einem pochenden Schmerz in meinem Kopf. Die Kopfschmerzen werden schlimmer… Das Mädchen neben mir lächelt mich an. „Der hast du es aber gezeigt. Die nervt mich auch schon. Ich heiße Samantha. Sag einfach Sam zu mir.“ „Aha.“, sage ich trocken. „Du bist Lilly, oder?“ Erschrocken sehe ich sie an. „Woher weißt du das?!“ Sie lacht. „Die Leute reden.“ Innerlich setze ich wieder meine Maske auf. Meine das-juckt-mich-alles-nicht-Maske. Ich sehe ihr in die Augen. Sie starrt mich mit ihrem musternden Blick regelrecht an. Als könnte sie direkt in meine Seele schauen. „Also? Hast du jetzt ’ne Kippe für mich?“
Ich wende den Blick ab und emotionslos antworte ich: „Ich rauche nicht.“ „Jammerschade. Trinkst du wenigstens? Alkohol meine ich natürlich.“ „Ja… manchmal.“ „Cool. Lass uns heute Abend was zusammen machen. Bisschen labern oder so. Du hast doch Ausgang, oder? Draußen ist es chilliger.“ Ich werde ein wenig skeptisch und schaue sie wieder an. Sie grinst wieder. Ich schaue sie nur ernst an. Und langsam vergeht ihr das Grinsen. „Hallo? Samantha an Erde. Ich habe eine Frage gestellt. Over.“ „Ja klar, können wir machen.“ Eigentlich habe ich das nur gesagt, um sie los zu werden, aber sofort weiß ich, dass ich es bereuen werde, das gesagt zu haben.
„Cool. Wir sehen uns gleich beim Frühstück. Wir gehen zusammen in diese komische Klapsenschule hier oder?“ „Ja, da muss ich auch hin… Bis gleich.“ Sie streichelt mir sanft durch die Bettdecke über die Seite und steht dann auf.
Als sie durch die Tür verschwunden ist und die Tür schon fast zu ist, öffnet sie sich noch mal einen kleinen Spalt uns Samantha steckt ihren Kopf hindurch. „Wehe du vergisst unser Date heut‘ Abend!“ „Date?“, frage ich, aber sie ist schon weg. Aus dem Treffen komme ich sicher nicht mehr raus. Hoffentlich nervt die mich nicht total. Ich versuche mich seelisch vorzubereiten. Na gut… Nun muss ich aufstehen, meine Pflicht erfüllen, damit ich keine „Artigkeits“-Punkte abgezogen bekomme – sonst wird mir der Ausgang sicher wirklich entzogen, was ich nach meiner Aktion letzte Nacht sowieso schon befürchte – und dann Frühstücken gehen. Ich sollte mich bei Ute entschuldigen. Ich reibe mir die Augen und schlage dann langsam die Bettdecke zurück.