Dieser Eintrag ist Teil 1 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Es ist kühl. Fast zu kühl für den schwarzen Pulli, den ich an habe. Ich spüre die frostige Luft um mich herum. Dieses Jahr ist der Oktober kalt. Ich schaue hoch zum Himmel. Die Sonne geht gerade unter. Glaube ich zumindest. Durch den grauen Schleier weiß man eh nicht mal grob wie spät es gerade ist. Hier stehe ich – vor dem Eingang dieses großen Gebäudekomplexes mit vier Etagen. Um mich herum weitere, ähnliche Gebäude. Alle sehen karg und trist aus. Manche sogar mit vergitterten Fenstern. Ich schaue unsicher zu Antonia, die sich schnellen Schrittes auf den Eingang zubewegt. Dort angekommen öffnet sie die Tür und sieht mich auffordernd an. Nur langsam setze ich mich in Bewegung. „Komm schon“, sagt sie ungeduldig. Sie muss so bald wie möglich zurück ins Heim. Eine der anderen Erzieherinnen ist kurzfristig krank geworden. Wie immer will man mich möglichst schnell loswerden. Mit Mühe schleppe ich den Koffer Stufe für Stufe die Treppen des klinisch weiß gestrichenen Treppenhauses hoch. Klinisch. Witziger Gedanke. Alle sagen immer ‚Klinik‘ oder ‚Krankenhaus‘. Sagt doch einfach wie es ist: ihr steckt mich in die Klapse. Na gut, ein ganz kleines bisschen habe ich vielleicht selbst dazu beigetragen… aber ich bin es gewöhnt, dass mich jeder loswerden will.

Als ich den Koffer endlich die letzten Stufen bis zur vierten Etage hochgeschleppt habe, steht Antonia schon an der gläsernen Sicherheitstür und hat längst die Klingel betätigt. An der Tür angekommen, wird sie bereits von einem Mann geöffnet. Er hatte wohl mal dunkle Haare. Mittlerweile sind sie größtenteils grau. Bevor er etwas sagen kann, sagt Antonia: „Guten Abend. Lorenzen. Ich hatte bereits angerufen und wollte Lilly vorbeibringen.“ Endlich kommt der Mann zu Wort: „Hallo Frau Lorenzen“, er schaut zu mir herüber, „Hallo Lilly. Ich bin Johannes. Ich habe euch bereits erwartet.“ Sein Blick wendet sich wieder zu Antonia, der man bereits anmerkt, dass sie mich am liebsten einfach nur kurz aus dem Auto gelassen hätte. „Kommen Sie noch einen Moment mit rein?“ Sie wirkt genervt, aber sie scheint zu wissen, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, wenn sie mich hier erfolgreich abladen will. Er hält uns die Tür auf und während meinen Koffer hindurchschleppe, mustert er mich von oben bis unten. Von innen strömt mir warme Luft entgegen. Es riecht ungewöhnlich, aber nicht unangenehm. Während wir Johannes wenige Meter zu einer Tür folgen höre ich, wie die Tür hinter uns in ein schweres Schloss fällt. Gefolgt von einem mechanischen Surren, das wohl von einem Schließmechanismus stammt. Tja, das war’s dann wohl. Jetzt bin ich in der Klapse.

Einen Moment später sitzen wir zu dritt in einem Stuhlkreis. Ich schaue mich kurz unauffällig um. Der Typ, der diesen Raum eingerichtet hat, dachte sich bestimmt: „So, wie kriege ich es hin, dass man sich möglichst wie in der Behindertenwerkstatt fühlt?“ Die Stühle sehen aus nach Grundschule – nur für Erwachsene. Eine kleine Couch, die ein bisschen fehlplatziert wirkt, steht an der Wand. Darüber hängen zwei kleine Leinwände, die das Zimmer wohl irgendwie freundlich gestalten sollten, aber gegen die sonst strahlend weißen Wände nicht ankommen. Die anfängliche Dunkelheit hat sich mittlerweile fast vollständig zur Nacht entwickelt. Durch die großen Fenster mir gegenüber sieht man ein paar Laternen draußen auf dem Gelände. Antonia und Johannes sehen mich erwartungsvoll an. Fragend schaue ich zwischen den beiden hin und her. Was wollen die von mir? ICH will hier nicht sein. Als ob Johannes meine Gedanken lesen könnte, wendet er sich an Antonia: „Das ist ja alles recht kurzfristig. Sie können froh sein, dass wir noch ein Bett auf dieser Station frei haben, sonst hätte Lilly in die geschlossene Station gemusst.“ Antonia schaut ihn an und sagt trocken: „Dann wäre das wohl so gewesen.“ Ja, das wäre ihr wohl recht gewesen. Nicht nur in die Klapse, sondern auch noch einsperren. Johannes schaut mich mit einem Blick an, den ich nicht genau einordnen kann. Vielleicht besorgt? „Lilly, das ist jetzt ganz wichtig. Für dich und deine eigene Sicherheit. Kannst du mir versprechen, dass du nicht versuchen wirst, dir selbst das Leben zu nehmen?“ – „Mal schauen wie viel Bock ich auf das alles hier habe.“ – „Wenn du mir das nicht versprechen kannst, können wir dich auf dieser Station leider nicht behandeln.“ – „Jaja, ich versprech’s“, presse ich widerwillig zwischen den Zähnen hervor.

Der Typ geht mir jetzt schon auf den Geist. Er und Antonia wechseln für ein paar Minuten weitere Worte, bei denen ich keine Lust habe zuzuhören. Geht mir eh am Arsch vorbei was die sagen. Ich spähe aus dem Fenster. Plötzlich hören die beiden auf zu reden und Antonia steht auf. Ich versuche sie zu ignorieren. Sie geht erst Richtung Tür und bleibt plötzlich neben mir stehen. „Lilly – ich weiß du findest das hier alles blöd, aber das ist wichtig für dich. Ich hoffe dir geht es bald besser und du kannst zurück zu uns ins Heim kommen.“ Was für eine Schleimscheiße. Die ist doch froh, wenn sie ihre Ruhe vor mir hat. „Ich besuche dich bald. Bis dann.“ Ich höre noch ein paar Schritte und kurz darauf, wie die Tür zufällt.

„Du fragst dich sicher wie es jetzt weitergeht.“ Johannes schaut mich musternd an. Ich nicke leicht, da ich keinen Bock habe das hier unnötig in die Länge zu ziehen. „Den Rest des Tages kannst du dich ein bisschen einleben. Ich stelle dir heute noch deine Bezugsbetreuerin vor und den Rest des Abends kannst du dann nutzen um die anderen hier kennen zu lernen.“ Als ob ich das will… Ich schweige einfach. „Morgen geht’s dann los. Hier gibt es einen klaren Tagesablauf und jeder hat seine Pflichten.“ Er hält mir einen kleinen Stapel mit Zetteln hin, welchen ich entgegennehme ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. „Hier steht alles drin. Wir haben auch eine Schule hier. Für die, die noch schulpflichtig sind.“ Er steht auf und gibt mir zu verstehen, dass ich ihm folgen soll. Er hält mir die Tür auf. Bringen wir’s hinter uns…

Als wir gerade durch die Tür sind, sehe ich wie eine kleine, etwas pummelige Frau raschen Schrittes auf uns zukommt. Ich betrachte sie näher: rundes Gesicht, eckige Brillengläser. Sie hat dünn gezupfte Augenbrauen. Sie wirkt streng und scheint Anfang 50 oder so zu sein. Ihre schulterlangen Haare mit Bob-Frisur sind ganz offensichtlich dunkelbraun gefärbt. Wahrscheinlich um graue Strähnchen abzudecken. Verdammt… wenn das meine Bezugsbetreuerin ist, muss ich mein Versprechen mich nicht umzubringen doch nochmal überdenken. Johannes lächelt ihr entgegen, während ich versuche möglichst nicht verzweifelt auszusehen. „Du musst Lilly sein. Ich bin Mechthild…“ Ich verkrampfe meine Hände. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht. „… deine Bezugsbereuerin.“ Sie nickt Johannes zu und er verabschiedet sich von mir: „Leb dich erst mal ein Lilly, wir sprechen bald“ und er geht zum Ausgang. Der kann mich doch nicht mit der Alten hier zurücklassen. „Ich führe dich jetzt ein wenig herum und zeige dir alles.“ „Ok“, sage ich möglichst emotionslos. Ich habe meinen blöden Koffer immer noch im Schlepptau. Warum immer ich?

„Was ist mit meinem Koffer?“ Eigentlich hatte ich nicht vor mit dem Ding hier spazieren zu gehen. „Was soll damit sein? Nimm ihn mit.“ Sie geht den Rest des kurzen Flurs entlang bis zu einem größeren, offen gehaltenem Raum. Ich wenige Meter hinter ihr. „Das ist ist der Gemeinschaftsbereich.“ Rechts steht eine große Wohnlandschaft mit mehreren Sessel recht mittig im Raum und auf einen großen Fernseher an der Wand gerichtet. In dem freien Bereich hinter der Wohnlandschaft stehen mehrere große, runde Holztische. Sie geht zu einem Durchgang ohne Tür auf der linken Seite. „Das hier ist die Küche. Ohne Betreuer darf sie nicht benutzt werden. Private Lebensmittel dürft ihr in einem der Kühlschränke lagern. Die werden regelmäßig kontrolliert und was abgelaufen ist, kommt in den Müll.“ Bisher ist es hier recht ähnlich wie im Heim… Sie geht zu einem Schrank, holt eine blaue Plastiktrinkflasche heraus und gibt sie mir. Ich klemme sie mir notdürftig unter den Arm und fühle mich wie ein Packesel mit der Flasche, dem Zettelstapel und dem Koffer.

Als wir uns wieder umdrehen, sitzt jemand mit verschränkten Armen an einem der runden Holztische. Er starrt mich an. „Das ist Florian“, sagt Mechthild zu mir. „Hi“, sage ich trocken. Er sagt nichts und starrt mich weiter an. Nette Leute hier. Außer ihm und Mechthild ist aktuell niemand zu sehen. Sie geht zum nächsten Raum, welcher direkt neben der Küche ist. „Das hier ist das Esszimmer“ und betätigt einen Lichtschalter, welcher augenblicklich dafür sorgt, dass der Raum hell erleuchtet ist. „Frühstück gibt es in der Woche zwischen 6:30 Uhr und 7:30 Uhr. Am Wochenende ist es ein bisschen anders. Aber darüber können wir wann anders noch reden.“ In dem Zimmer stehen 5 etwas kleinere, runde Holztische, die ansonsten genauso aussehen wie die großen im Gemeinschaftsraum. Wie in allen Räumen gibt es hier große Fenster und ein paar Bilder an der Wand, die genauso gut im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis hängen könnten. Mechthild geht zu einem Gerät an der Wand. „Das hier ist der Wasserspender. Hier kannst du deine Trinkflasche auffüllen.“ Es ist eine Art Wasserhahn mit Abstellfläche für einen Behälter und drei verschiedenen Knöpfen ohne Beschriftung. Wahrscheinlich mit und ohne Kohlensäure oder so.

Wir kommen wieder aus dem Raum heraus und Florian ist plötzlich verschwunden. Gruseliger Typ. Mechthild deutet auf einen langen Gang: „Hier haben alle Patienten ihre Zimmer. Dein Zimmer ist ganz am Ende des Ganges auf der linken Seite. Deine Zimmergenossin ist bestimmt auch dort.“ „Kann ich ein Einzelzimmer haben?“ Mechthild schaut leicht entsetzt. „Das hier ist kein Hotel, Lilly.“ Ohne Worte gehen wir zur Zimmertür. Hast du irgendetwas in deiner Tasche, womit du dich verletzen könntest? Einen Rasierer zum Beispiel?“ Das überrumpelt mich völlig. „Äh… ja.“ Ich fange an in meinem Koffer zu kramen und reiche ihr meinen Rasierer und ein paar Ersatzklingen. Natürlich nicht alle. Ich bin ja nicht blöd. „Wenn du ihn brauchst, dann komm zu mir, dann kriegst du ihn. Nach der Benutzung gibst du ihn aber wieder ab. Und jetzt gib mir dein Handy.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch und schaue sie an. „Was?“ „Dein Smartphone. Auf dieser Station gibt es feste Zeiten, in denen jeder sein Handy benutzen darf.“ Widerwillig hole ich es aus meiner Hosentasche, schalte es aus und gebe es ihr. „Pack erst mal deine Sachen aus. Alles weitere klären wir wann anders“ und schon geht sie wieder in die andere Richtung.

Ich schaue ihr noch kurz hinterher und öffne dann die Tür zum Zimmer. Auf dem Bett direkt rechts an der Wand sitzt ein Mädchen und hört mit ihren Kopfhörern Musik. Als sie mich sieht, schaltet sie die Musik ab und springt auf. „Hi, ich bin Ute!“ Sie lächelt mich an. Ich zwinge mich zu einem Lächeln: „Hi. Lilly.“ Ich lasse meinen Koffer vor einem schlichten Kleiderschrank neben dem leeren Bett liegen, welches hinten beim Fenster steht. Dann stelle ich die Trinkflasche ab, lege die Zettel auf den Schreibtisch, der für mich zu sein scheint und lasse mich gestresst aufs Bett fallen. Ich merke, dass ich angeglotzt werde. Ute sieht mich mit funkelnden Augen an. „Ähh… sonst geht’s dir gut?“, frage ich sie entnervt. „Stressiger Tag, hm? Ich bin auch erst seit 2 Wochen hier. Der Anfang ist anstrengend. Weswegen bist du hier?“ „Mich will keiner irgendwo haben, also haben sie mich hierhin gesteckt“, sage ich nüchtern, „Und weswegen sitzt du?“ Sie fängt laut an zu lachen. „Du bist witzig. Ich glaube wir werden uns gut verstehen.“ Ich bewege keinen einzigen Muskel im Gesicht. „Ich bin wegen ADHS und Angststörungen hier“, fügt sie schnell hinzu. „Ah, okay.“ Hyperaktiv merkt man ihr an, ja. Wenn die jeden Tag so ist, gebe ich ihr noch ein paar mehr Gründe Angst zu haben. „Ich bin müde“, sage ich und schaue mich um. Ute deutet auf eine Tür. „Das Bad ist da.“ Ich nehme die nötigsten Sachen aus meiner Tasche und gehe ins Bad um mich zum Schlafen fertig zu machen.

„Ist es okay, wenn ich das Licht ausschalte?“, frage ich Ute. „Ich mach’s gleich aus, wenn ich auch im Bad war.“ Ich lege mich ins Bett und starre an die Decke. Jetzt befinde ich mich wieder in meiner Trance. Das ist immer so, wenn ich überfordert und erschöpft bin. Dann liege ich einfach nur rum. Ich schlafe nicht, aber ich bin auch nicht wirklich wach. Ich nenne es den Zombie-Modus. Dann bin ich froh, wenn mich alle in Ruhe lassen. Ute kommt auf dem Badezimmer und geht zum Lichtschalter. „Gute Nacht“, sagt sie. „Nacht“, erwidere ich. Sie betätigt den Schalter und es wird dunkel…

„Aber du musst-“ „Einen Scheiß muss ich! Du hast mir gar nichts zu sagen!“, brülle ich ihn an. Er ist ein Schwachkopf. Er versteht es nicht. Er versteht gar nichts. Er versteht MICH nicht. Psychologen sind Idioten. „Überleg doch mal. Wie würdest du dich in seiner Situation fühlen?“ Ich reagiere nicht auf das was er sagt. „Wenn du andere auf der Station nicht leiden kannst, dann geh ihnen aus dem Weg oder versuch‘, das erwachsen zu klären. Aber wir dulden hier weder Gewalt, noch Mobbing.“ „Der hats doch verdient.“ Was ist das hier für ein Saftladen? „Das war das erste und letzte Mal, dass ich so etwas durchgehen lasse. Du bekommst 2 Wochen Ausgangssperre. Sollte das wieder passieren, müssen wir dich leider wieder zurück ins Heim schicken.“ „Aha.“ Als ob ich es mir ausgesucht hätte hier zu sein… sein Gesicht wird wieder etwas freundlicher. „Früher oder später wirst du das sowieso müssen. Du solltest dich an diesen Gedanken gewöhnen. Du bist eine junge Frau. Es dauert noch 2 Jahre. Wenn du dich anstrengst, die Schule packst und dich vernünftig verhältst, kannst du vielleicht schon mit 17 ausziehen.“ Ich reagiere wieder nicht. Er redet auf mich ein, wie immer. Ignorant. Ich stehe auf und gehe zur Tür. „Lilly? Warum gehst du?“ Dumme Frage… „Sie nerven mich.“ „Na gut. Wir reden später nach dem Abendessen noch mal. In Ordnung?“ Als ob ich eine Wahl hätte… „Wenn es sein muss…“ „Ich würde mich darüber freuen.“ Ich spüre wie er mich beobachtet, während ich mit erhobenen Hauptes den Raum verlasse.

Auf dem Weg zum Zimmer versuche ich den Blick am Boden zu halten. Alle glotzen mich an. Wie immer. Ich setze mich auf mein Bett und starre an die Wand. Scheiß Florian. Scheiß Klapse. Scheiß Leben. Kurz darauf kommt Ute durch die Tür. „Und, was wollte er?“ … direkt die nächste, die mich volllabert. 50-50, dass ich heute jemandem noch eine reinhaue. „Ach, der hat mich wieder zugetextet.“ „Warum das denn? Wegen Florian schon wieder?“ Okay… die Chance ist eher 90-10. „Weswegen denn sonst? Aber der Typ geht mir einfach auf den Keks.“ „Lass ihn doch einfach in Ruhe.“ Genau. Der Idiot soll eher MICH in Ruhe lassen. „Wie denn? Hier kann ich dem doch nicht aus dem Weg gehen. Und die nächsten 2 Wochen habe ich schon wieder Ausgangssperre.“ „Da bist du auch selbst schuld!“ „Jaja.“ Als ob ich jetzt jemanden bräuchte, der mich belehrt… Ich lasse mich aufs Bett fallen. „Gleich gibt es Abendessen“, versucht sie das Thema zu wechseln. „Toll. … Hab‘ keinen Hunger. Ich bin eh schon wieder fetter geworden.“ Der Hunger ist mir sowieso vergangen von diesem ganzen Mist. „Du weißt doch, auch, wenn wir nichts -“ „- essen, müssen wir trotzdem da sitzen und die anderen beim Fressen begaffen wie im Zoo, ich weiß“, vollende ich ihren Satz. Sie steht noch immer neben der Tür. „Ich geh schon mal vor.“ Ich wende meinen Blick von ihr ab. „Bis gleich.“ Die Tür schließt sich langsam hinter ihr. Ich nehme meine Brille vom Nachttisch, setze sie auf und streiche mir die Haare hinters Ohr. Ach scheiß drauf… Ich stehe auf und gehe in den Speisesaal.

Dieser Eintrag ist Teil 2 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

War ja klar, alle gaffen. Ich könnte jetzt schon kotzen gehen, ohne dass ich was gegessen habe. Dieses ohne Grund Hier-Sitzen-Müssen, ist schon reinste Schikane. Alles wegen Florian? Ich weiss nicht, mein Kopf tut weh und eigentlich möchte ich nur schlafen. Alle essen und irgendwie kriege ich jetzt auch Hunger, aber Florian der Psycho guckt mich schon wieder an. Nein, ich habe wohl doch keinen Hunger mehr. „Sollen wir gleich Fernsehn oder willst du lieber Skip Bo spielen?“ fragt mich Ute. Ute ist eine kleine rothaarige Turbotante, die alles toll findet, nur sich selbst wohl nicht. „Ich glaube ich lese lieber ein bisschen oder so“, antworte ich ihr, ohne sie anzusehen. Im Heim läuft alles etwas anders, man ist mehr auf sich allein gestellt. Niemand wird sofort analysiert oder ausgefragt, man lebt so dahin. Mal gut, mal schlecht, besonders wenn einen niemand mag. Mich mag niemand. Und hier auf der Station wird man total überwacht und beobachtet. „Wo willst du hin?“ „Ich hab dir doch gesagt, ich gehe lesen oder so.“ Wieder diese Ute. Kapiert einfach nichts. Gestern hab ich sie dabei erwischt, wie sie am Fenster geraucht hat. Ich hab nichts gesagt, eigentlich gibt es ja auch schlimmere Sachen. Für die bin ich dann zuständig, für die richtig schlimmen Sachen…

Als ich die Tür öffne, steht er mitten auf dem Gang. Auf dem Weg zu meinem Zimmer. Wie ein Insekt schaut er mich an mit seinen riesigen Augen. Warum kann dieser Idiot sich nicht verpissen? Ein schelmisches Grinsen in seinem Gesicht. Wie gern ich ihm die Kehle zudrücken und zusehen würde, wie sein Kopf rot anläuft… Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, aber plötzlich werde ich von hinten fest umarmt. Schon wieder dieses schreckliche Mädchen. Diese Ute. „Wir wollen Monopoly spielen. Spielst du mit?“ Diese fürchterliche Stimme. Warum muss sie immer so brüllen? Besonders, wenn sie neben mir steht. „Ich habe doch bereits gesagt, ich möchte lesen.“ Genervt löse ich mich aus ihrem Griff und gehe weiter, ohne sie anzusehen. Wie gern ich ihr weh tun würde. So wie damals, Stefan. Er konnte nicht aufhören zu reden.
Da hab‘ ich ihm das Maul gestopft. Na gut, nach einer Woche durfte er wieder aus dem Krankenhaus, aber er wird sich sein Leben lang dran erinnern – zumindest, wenn er in den Spiegel sieht. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Entschlossen schreite ich an Florian vorbei, der immer noch dasteht und blöd guckt. Ich lege mich aufs Bett, nehme das Buch von meinem Nachtschränkchen und ehe ich mich versehe, bin ich auch schon in einer anderen Welt.

Lautes Klopfen schreckt mich auf und genervt lasse ich das Buch sinken. „Was ist denn jetzt schon wieder los?!“, schreie ich die Tür an. Johannes steckt seinen Kopf zur Tür herein und schon bei seinem Anblick kriege ich schlechte Laune.
„Wir müssen reden“, sagt er und starrt mich an. „Wieso? Was ist denn los?“ „Komm einfach in mein Büro, dann reden wir.“, sagt er und zieht die Tür einen Spalt breit hinter sich zu. Ich ahne schon, was er vor hat. So eine Art Therapiestunde. Ein bisschen rumstochern, ein bisschen nerven eben, sonst nichts, nur nerven. So wie damals zu Hause. Endloses Ausfragen. Wie geht’s dir, wo warst du, wo gehst du hin, mit wem warst du unterwegs und so weiter, und so fort. Aber was bleibt mir übrig, ich muss mitspielen, wenn ich nicht wieder ins Heim will. Dieses elendige Drecksloch, in das meine Mutter mich gesteckt hat. Aber so wird man halt seine Probleme los. Bin ich ein Problem? Ja, jetzt bin ich ein Problem, ein großes sogar. Und ich will auch ein Problem sein. Euer Aller Problem! Langsam stehe ich auf und gehe über den langen Flur. Ich stehe vor der Tür des Psychiaters und zum ersten mal in meinem Leben weiß ich genau, was ich tun muss. Meine Hände zittern und die Schere in meiner Hand fühlt sich ganz heiß an. Ich drücke die Türklinke runter und plötzlich habe ich keine Gedanken mehr.

Im nächsten Moment spüre ich einen Stoß in die Seite und stürze zu Boden. „Du Vollpfosten! Was soll der Scheiß schon wieder?“, schreie ich Florian an, der mich mit starren Augen ansieht. „Ich habe dich gefragt, was die Scheiße soll, du Idiot!“ – er steht nur stumm da und guckt! Ich will aufstehen und vernehme ein starkes Brennen im Unterleib.
Ich sehe an mir herunter und entdecke die Schere, die ich noch eben in der Hand hielt. Sie steckt oberhalb meines rechten Hüftknochens bis zur Hälfte in meinem Körper. Auf meinem Shirt bildet sich ein roter Fleck. Jetzt werde ich RICHTIG sauer. „Du Arschloch! Das war mein Lieblingsshirt! Ich mach dich fertig!“ Ich ziehe die Schere aus der Wunde, stehe langsam auf und humpele auf wackligen Beinen, jedoch die Schere fest in meiner Hand auf ihn zu.

Ich spüre einen festen Griff an meiner Hand und drehe mich ruckartig um. – Nur um im nächsten Moment Johannes ins Gesicht zu sehen. „Lilly! Was ist hier los?!“ „Florian, der Penner, hat mein Shirt dreckig gemacht, jetzt kann ich es wegschmeißen!“ Er schaut besorgt auf den Blutfleck, der langsam größer wird. Johannes hebt mich hoch – „Was soll das?!“ Florian glotzt immer noch scheiße – wie immer. Ich schaue aufgebracht zwischen Florian und Johannes hin und her. Mit seinen sanftmütigen, stahlend-grünen Augen sieht Johannes mich an, blickt wieder auf, öffnet mit dem Ellenbogen die Tür zum Krankenzimmer, das genau neben dem Besprechungszimmer liegt, und platziert mich vorsichtig auf die Liege. Mir ist schwindelig… Nur für einen kurzen Moment die Augen schließen…

Geschirrgeklapper reißt mich aus dem Schlaf. Habe ich denn geschlafen, habe ich etwa alles nur geträumt? Ich sehe mich in dem Raum um und stelle erstaunt fest: ich bin in einem Krankenhaus, aber warum? Auf dem Nachttisch stehen Blumen und auf dem einzigem Stuhl, direkt neben meinem Bett sitzt… Oh nein, was will der Penner denn hier? Ich schließe meine Augen und hoffe, das alles nur meiner kranken Phantasie entsprungen ist. Plötzlich geht die Tür auf und ein Arzt kommt herein. Also doch ein Krankenhaus. „Würden Sie uns einen Moment allein lassen?“ Florian steht auf und ohne ein Wort verlässt er das Zimmer. Der Arzt kontrolliert die Infusion und sieht sich meine Akte an. „Weißt du, wie das alles passiert ist? In deinem Bauch war ein ziemlich tiefes Loch – aber wir haben dich wieder zusammengeflickt. Also,wie ist das passiert?“ „Es war wohl ein Versehen“, sage ich. Aber glaube ich das wirklich? „Ok, ein paar Tage wirst du wohl hier bleiben müssen, ich hole deinen Besuch jetzt wieder rein“. Mit gesenktem Kopf erscheint Florian und setzt sich wieder auf den Stuhl. „Du hast mein Bandshirt kaputt gemacht.“, sage ich ohne ihn anzusehen. Er drückt mir ein Päckchen in die Hand, steht auf und geht. Was für ein bekloppter Typ. Ein totaler Vollpfosten. Ich reiße das Päckchen auf und muss augenblicklich würgen. Was ist denn das? Mir ist so schlecht, dass ich nach der Schwester klingeln muss.
Schweißgebadet drücke ich ihr das Päckchen in die Hand. Sie schaut mich erst fragend an, legt das Paket unbeeindruckt an die Seite und geht wortlos aus dem Zimmer.

Ein kalter Schauer überkommt mich. Ich schaue auf und merke erst jetzt, dass jemand mit mir redet. „Lilly? Ist alles in Ordnung? Du bist so blass…“ Johannes öffnet nun die Tür komplett und sieht mich an. „Lilly?“ „Oh… ähm… Ich wollte die Schere zurückgeben, die ich mir von Ihnen geliehen habe!“ Meine Hände fühlen sich schweißig an. Ich drücke ihm die Schere in die Hand, drehe mich um und gehe. „Würdest du dich einen Moment in meinem Büro hinsetzen und mit mir reden?“ Genervt drehe ich mich um und trotte in das Besprechungszimmer. Ich ziehe den Stuhl zu mir und setze mich hin. Er hat einen roten Bezug. Komischer Stoff, fühlt sich irgendwie kratzig an, aber gleichzeitig auch angenehm… Ich mag diese Stühle nicht. Ich fühle mich wie bei einem Verhör. Nicht wegen dem Stuhl, eher wegen der großen Stehlampe einen Meter daneben. Aber bei dem Stuhl bekommt man immer das Gefühl, man würde in der Mitte des Raums sitzen – Gegenüber des Tisches, hinter dem ein Richter oder so was sitzt, der mit diesem Holzhammer in der Hand über einen urteilt. Johannes hat bereits die Tür geschlossen, setzt sich auf seinen Ledersessel auf der anderen Seite seines großen Schreibtischs und mustert mich. Es fehlt nur noch die Richterperücke und der komische Holzhammer…

Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmt.
„Was gibt es denn so Wichtiges zu bereden?“, frage ich, ohne Johannes anzusehen. „Wann hast du zum letzten Mal deine Medikamente wirklich eingenommen? – oder hast du sie überhaupt schon mal genommen, seit du hier bist?“
Vorwurfsvoll sieht er mich an und schüttelt langsam den Kopf, während er in meiner Akte blättert. „Ich habe von deiner Betreuerin gehört, du hättest Halluzinationen gehabt. Und langsam glaube ich, dein Krankheitsbild hat sich zum Negativen hin verschlechtert. Du bist eine Gefahr für dich selbst und für deine Umwelt. Einige deiner Mitbewohner haben regelrecht Angst vor dir. Entweder du arbeitest mit in dieser Therapie oder wir müssen uns was anderes überlegen.“ Ach du Scheiße. Wieso weiß der, dass ich die Pillen nicht nehme?! Irgendwer hat ihm das doch gesteckt. Das kann doch nur der Florian gewesen sein, die anderen sind doch viel zu blöd dazu. Und überhaupt, es ist doch nichts passiert, es war doch nur ein kurzer Blackout. Kann doch bei jedem mal vorkommen. Plötzlich wird mir ganz seltsam, wieso redet Johannes jetzt in Zeitlupe. Will der mich verarschen? Was ist hier los? Der Stuhl, dieser scheiß rote, kratzige Stuhl. Langsam bereue ich, dass ich meine Tabletten nicht genommen habe… Ich bin festgebunden und der Typ hat eine blutige Schere in der Hand. Ich kriege plötzlich keine Luft mehr und auf dem Schreibtisch vor mir steht ein Päckchen mit meinem Namen drauf. Darauf steht : „In Liebe, von Florian.“

Ich kann den Blick nicht von dem Päckchen abwenden. Ganz langsam öffnet es sich wie von Geisterhand und plötzlich purzeln endlos viele Augen heraus. Nach wenigen Momenten liegen sie auf dem Tisch, auf dem Boden, einfach überall. Sie starren mich an, als könnten sie in mich hineinschauen. Ich versuche, mich zu zwingen, mich zu bewegen, aber ich schaffe es nicht. Nicht mal zu blinzeln. Mein Kopf wird sanft, aber bestimmt, zur Seite gedreht und ich sehe Johannes vor meinem Gesicht. „Lilly?! Was ist los mit dir? Hörst du mir überhaupt zu?!“ „Ja… äh… ich habe nur über was nachgedacht.“ Was war das schon wieder für eine Scheiße? Bin ich jetzt total bekloppt? Ich starre auf die Stelle, an der eben noch das Päckchen lag. – Nichts. „Ab jetzt wird sich deine Betreuerin, Mechthild, persönlich darum kümmern, dass du deine Medikamente nimmst. So kann das nicht weitergehen.“ Ich nicke. „Übrigens… nächste Woche ist Weihnachten. Ich habe mit deiner Mutter gesprochen und sie möchte, dass du über Weihnachten nach Hause kommen sollst…“ „Was?!“ Ich muss mich zusammenreißen um nicht auszurasten. Warum soll ich nach Hause kommen? Damit sie mich quälen kann?! Die mach‘ ich fertig. „Ja, ich halte das gar nicht mal für eine schlechte Idee. Sie möchte aber vorher noch mal persönlich mit dir reden. In etwa einer halben Stunde müsste sie hier sein…“

Ich komme in meinem Zimmer an… Okay, eine halbe Stunde Zeit bis meine Mutter kommt, meine Gedanken überschlagen sich und mir ist kotzübel. Diese Übelkeit habe ich schon fast…, ja, wie lange eigentlich schon? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Die Zeit vergeht viel zu schnell und schon klopft es an meine Tür. „Lilly?! Kommst du? – deine Mutter ist im Besucherraum.“ „Sofort. Noch fünf Minuten“, ich weiß nicht, ob ich es laut gesagt habe, aber hinter der Tür ist es jetzt still. Hastig renne ich ins Bad, ich muss kotzen. Am liebsten würde ich jetzt abhauen. Aber wohin und wie …? Ich bin wie erstarrt. Ich wische mir den Mund ab, spüle ihn aus, kämme meine Haare und gehe in den Besucherraum. Da sitzt sie und lächelt mich an, aber nur ihr Mund lächelt, ihre Augen nicht. Diese Frau ist mir fremd und ich versuche zu begreifen, dass diese Frau meine Mutter ist. „Hi“, mehr oder etwas besseres fällt mir nicht ein. „Hallo, mein Schatz“, sagt sie und sieht mich mit diesem vorwurfsvollem Blick an. Ich setze mich an den Tisch und warte. Ich nutze die Zeit um sie mir genauer anzusehen. Sie hat sich aufgedonnert, Lippenstift, orange-rot gefärbte Haare, schickes Outfit. Ich kenne sie anders – ganz anders.

„Leider habe ich nicht viel Zeit, ich wollte dich nur fragen, ob du zu Weihnachten nach Hause kommen möchtest?“
Sie fragt mich tatsächlich, was ich möchte. Dieses verlogene Biest… Nervös knetet sie ihre Finger und sieht mich fragend an. „Weiß nicht. Muss ich?“, frage ich, ohne sie anzusehen. Meine Gedanken überschlagen sich, mir kommen die Schläge, die Demütigungen und all die Wut und der Hass in den Sinn. Einfach alles,was sie mir angetan hat.
Meine Wut wird immer stärker, ich möchte sie leiden sehen, so wie ich all die Jahre gelitten habe. In meinem Kopf beginnt es zu rauschen, mir ist übel, die Schere in meiner Hand macht mich stark. Langsam stehe ich auf, die Schreie sind unerträglich.

Ich schließe die Augen. Dieses Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Dann wird es leise… Ich öffne die Augen und sehe sie an. Alles ist plötzlich so klar. „Worauf wartest du, Schwachkopf?“, sage ich zu mir selbst. Ich packe die Schere so fest, dass meine Hand anfängt zu zittern. Langsam gehe ich auf meine Mutter zu. Ich will ihren leblosen Körper sehen. Ihre Schreie hören. Sie an die Wand nageln. Ich will ihr ihre Gedärme aus ihrem widerlichen Körper reißen, ihr verdorbenes Herz aus ihrer Brust reißen, es in meiner Hand halten und es zerdrücken. Ich will sie leiden sehen. So sehr… Meine Sicht verschwimmt. Warum muss ich nur schon wieder heulen? Ich bin… schwach… jämmerlich… Sie umarmt mich fest und ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich hasse sie. Und trotzdem liebe ich sie irgendwo… – meine Mutter. „Ja, du musst.“, sagt sie liebevoll und streicht mir zärtlich eine Träne von der Wange. Die Schere fällt zu Boden und ein paar einsame Bluttropfen folgen ihr.

Sie lässt mich los und plötzlich wird mir eiskalt. „Also dann, bis morgen“, sagt sie und streicht mir nochmal über mein Haar. Als sie gerade gegangen ist, haste zur Tür und renne in mein Zimmer, endlich allein. Hektisch durchsuche ich die Kommode, da ist es ja, mein Taschenmesser, gut versteckt. Unaufhörlich laufen mir die Tränen über das Gesicht. Das starke Brennen; das warme Blut an meinem Bein… Eine Erlösung, ich kann mich wieder fühlen, ich bin noch da, ich lebe, ich bin… Es klopft an der Tür. „Lilly?“, das ist die Stimme von Mechthild, meiner Betreuerin. Hektisch ziehe ich meine Hose hoch und verstecke das Messer wieder in der Schublade. „Ja!?, was ist denn?“ Schon steht sie im Raum und lächelt mich an. „Na, fährst du morgen nach Hause?“ „Denke schon“, antworte ich ohne sie anzusehen. Eigentlich mag ich sie ja, diese kleine, dicke, immer fröhliche Frau. „Möchtest du darüber reden?“, fragt sie und sieht mich erwartungsvoll an. „Nein, eigentlich nicht oder müssen wir?“ „Nur wenn du willst. Du weißt ja wo ich bin“, sagt sie und geht.

Dieser Eintrag ist Teil 3 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Mein Blick schweift durchs Zimmer und bleibt an dem großem Baum vor dem Fenster hängen. Mir wird plötzlich ganz heiß und dieses furchtbare Rauschen in meinem Kopf… Eigentlich sollte ich jetzt Johannes rufen, aber ich bin nicht in der Lage meinen Blick von dem Baum abzuwenden. Der Wind lässt einen leblosen Körper hin- und herschwingen.
Der Regen durchnässt seine Jacke, seine Augen sind aus den Höhlen hervorgetreten. Dieser furchtbare Schrei, er verfolgt mich in all meinen Träumen, er ist immer in meinem Kopf. Der Schrei meiner Mutter, als sie aus dem Fenster sah. Wie gebannt starre ich aus dem Fenster. Es klopft wieder an der Tür. Ich schrecke auf und sehe mich um, schaue wieder aus dem Fenster. Er hängt dort immer noch. Langsam öffnet sich die Tür und jemand tritt ein. „Lilly…“, flüstert Daniela, eine Mitpatientin, meinen Namen. Ich höre es, ignoriere es aber. Sie berührt mich an der Schulter. „Lilly!“ „Was ist denn?!“, raune ich sie an. Sie späht aus dem Fenster und versucht zu erkennen, wonach ich Ausschau hielt. Eine Sekunde später steht sie vor mir und ich sehe in ihr Gesicht. „I-i-ich…“ „Hör auf mit dem Gestotter und sag mir, was du willst!“ „M-m-echthild hat gesagt, ich so-soll dich zur A-a-abendbesprechung holen, weil du nicht kommst.“

Das hatte ich ganz vergessen… Wieder dieses dumme Gelaber. Jeden Tag das Selbe. Jeder erzählt, was er den Tag so gemacht hat und wie es ihm geht, bla bla bla. Wenn es einem scheiße geht, heißt es: „Willst du drüber reden?“, sagt man „Nein.“ ist das auch in Ordnung. Ich verstehe zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber egal. Ich höre, wie die Tür hinter mir zufällt. Daniela ist längst gegangen. Sie ist… unheimlich. Sagt kaum was, schminkt sich wie eine Gothic-Tussi… Aber sie wirkt harmlos. Auch, wenn irgendetwas an ihr mein Interesse weckt. Was viel wichtiger ist: ich muss endlich meine Anfälle unter Kontrolle bekommen. Und zwar ohne Medikamente. Keiner darf merken, dass ich sie nicht nehme. Morgen geht’s zu Mama, da muss ich die Medikamte bestimmt nicht nehmen… und dann sehe ich meinen Bruder, den Idioten. Langsam stapfe ich den Gang entlang zu der Couch, wo die gesamte Gruppe wartet. Sie sitzen schon alle da und gaffen mich an…

„Da wir ja endlich vollzählig sind, kannst du ja anfangen, Lilly.“, sagt Mechthild und sieht mich erwartungsvoll an. Wieso ich schon wieder? Ich verdrehe die Augen. „Okay, was soll ich denn erzählen?“, frage ich leise. „Du fährst doch morgen nach Hause. Fühlst du dich gut, wenn du daran denkst?“ „Geht so…“ „Etwas ausführlicher geht es nicht?“ „Nein!“, schreie ich ihn an. Sofort tut es mir schon wieder leid, aber jetzt ist es zu spät. Ich stehe auf und ohne mich nochmal umzusehen, gehe ich in mein Zimmer. Ich spüre wie die Blicke mir folgen. Mein Zimmer? Seltsam, dass ich das denke, eigentlich habe ich schon lange kein eigenes Zimmer mehr…

Die Nacht war lang, gleich werde ich abgeholt, irgendwie fühle ich mich komisch. Angst? Jemand klopft an meine Tür, ich nehme meine Tasche und schon stehe ich meiner Mutter gegenüber. „Sollen wir sofort fahren?“, fragt sie mich, aber nicht mal diese simple Frage verstehe ich wirklich. „Was, wieso denn nicht? Was hast du denn noch vor?“ „Okay, dann los.“ Ungefähr 20 Minuten dauert die Fahrt und das Schweigen im Auto tut fast schon weh. Dieses Schweigen. Als würde es schreien: Wir haben uns nichts zu sagen! Eine gefühlte Ewigkeit später hält das Auto an und ich sehe mir das Haus, in dem ich so lange gewohnt habe, an. Es erscheint mir so groß, kalt und irgendwie fremd. Plötzlich geht die Haustür auf und in der Tür steht ein grosser blonder Junge. Den hatte ich ja schon fast wieder verdrängt. Diesen Idioten gibt es ja auch noch. „Hallo.“, sagt er und ich weiss nicht, ob mir von der Fahrt so schlecht ist…, aber augenblicklich muss ich kotzen. „Tolle Begrüßung“, sagt er und geht Richtung Haustür. Nach einer halben Ewigkeit Rumgekotze, sehe ich es. Es steht genau neben der Haustür. Das Päckchen mit meinem Namen drauf. Auf dem Päckchen steht: „von Florian“.

„Schon wieder so eine Scheiße…“, murmel ich zähneknirschend in mich hinein. Mir ist noch ganz schlecht. Ich gehe so schnell wie ich kann, ohne dass es wirklich auffällt zu dem Päckchen. So fest wie ich kann, trampel ich darauf herum.
„Sag mal, bist du irgendwie ein bisschen bescheuert oder so?“, fragt mich der Junge. Er ist mein großer Bruder – Dennis… Der Engel schlechthin. Mamas Liebling. Der, der immer alles mit Links schafft – und das hat nichts damit zu tun, dass er Linkshänder ist. Sein Abitur hat er mit 1,2 abgeschlossen. Streber. Keine Ahnung was er jetzt macht. Hat mich auch nie wirklich interessiert, was die Dumpfbacke macht. Er versteht mich nicht. Ich sehe ihn an. „Du bist der, der bescheuert ist!“ Abfällig blickt er mich an. „Kleines, was haben sie dir in der Klapse angetan? Wurde dir der Rest von der zu nichts zu gebrauchenden Brühe auch noch aus deinem Kopf entfernt?“ Ich hole aus, um ihn zu schlagen, aber er hält meine Hand fest und lacht. „Du bist echt behindert, Junge.“, fauche ich ihn an, reiße mich los und gehe ins Haus.
„Sagt die Gestörte zum Genie.“, ruft er mir hinterher.

Ich werde fast erschlagen von diesem Geruch, als ich durch die Tür komme. Sofort halte ich mir die Nase zu. Ist ja nicht so, als wäre ich schon schlecht gelaunt genug. „Was ist das?!“ Weihrauch. Mama hat vor Kurzem wieder die ganze Bude ausgeräuchert. Bestimmt extra, weil sie wusste, dass ich komme. Von wegen „das schlechte Karma vertreiben“ und so ein Schwachsinn. Vielleicht liegt das in der Familie, dass alle ein bisschen bescheuert sind. Komisch, dass ich normal im Kopf bin. Es ist recht düster in der gesamten Wohnung. Das liegt möglicherweise daran, dass es draußen schon dämmert und die Energiesparlampen nicht besonders hell leuchten. Bei diesen scheiß Lampen habe ich immer den Eindruck, als würde der Raum noch dunkler, wenn man sie einschaltet. Das gibt der Umgebung immer diesen zwielichtigen Touch. Ich fühle mich sofort wohler als in der Psychatrie, wo alles weiß und ausgeleuchtet ist. Aber irgendetwas bedrückt mich hier. – Das ist mir früher nie aufgefallen. Ein beklemmendes Gefühl. Ich gehe nach oben und drücke die Türklinke zu „meinem“ Zimmer herunter. Als ich langsam die Tür aufdrücke und das Innere erblicke, wird mir schon wieder schlecht.

Alles ist noch genauso wie es war, bevor sie mich weggeschickt haben. Die Poster, das Regal, meine Spieluhr, die mein Vater selbst gemacht hat, einfach alles, außer… Das Fenster, das Fenster mit Ausblick in den Garten. Mit Ausblick auf den Baum, der zu dieser Jahreszeit keine Blätter hat, damals hatte er viele rote Blätter. Hübsch haben sie es gemacht. Mit Blumen, einer neuen Gardine, aber den Ausblick konnten sie nicht verändern. Ich sehe in den Garten. Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern wie schön es hier mal war. Als wir noch eine Familie waren. Als mein Vater noch da war. Als kleines Mädchen habe ich immer auf seinem Schoss gesessen und ihm meine „Kleinmädchensorgen“ erzählt und er hat zugehört und weiter aus dem Fenster gesehen, nichts gesagt, nur zugehört. Dachte ich damals, bis ich erfuhr, dass er schwer depressiv und er in seiner eigenen dunklen Welt gefangen war.

Ein lautes Krachen reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Bruder kommt ohne Anklopfen in mein Zimmer und grinst mich bescheuert an. „Was willst du?“, schreie ich ihn an. „Wir wollen den Tannenbaum schmücken, kommst du?“, fragt er und sieht mich fragend an. „Ich komme gleich.“, sage ich, aber nur um ihn wieder loszuwerden. Ich sehe wieder aus dem Fenster, starre den Baum an und plötzlich sehe ich einen Schatten. Sehe ich wirklich etwas oder werde ich jetzt endgültig bescheuert? Es wird schon dunkel und ich reibe mir die Augen bis sie weh tun. Nochmal wage ich einen Blick in den Garten und was ich jetzt sehe, macht mir solche Angst, dass mir augenblicklich die Luft weg bleibt. Mein Herzschlag rauscht in meinen Ohren, meine Hände zittern und ich schreie so laut, wie noch nie zu vor in meinem ganzen Leben. Meine Angst ist so groß, sie erfüllt den gesamten Raum und das Zimmer beginnt sich um mich herum zu drehen. Die Ohnmacht erlöst mich von dieser furchtbaren Angst, ich bin frei…

Als ich die Augen aufschlage, ist mir wieder total übel. Ich drehe mich und würge, doch mein Magen ist leer. Ich habe fürchterliche Bauchschmerzen… Kommt sicher vom ständigen Kotzen. Man, das nervt. Mein Bruder sitzt am Ende des Bettes und sieht mich besorgt an. „Was guckst du so scheiße?“, mecker ich ihn an. Er steht auf und verlässt das Zimmer. Ich zwinge mich dazu, mich aufzusetzen. Meine Mutter kommt durch die noch offen stehende Tür ins Zimmer. „Du wirst doch jetzt nicht auch noch krank oder, Liebes?“ Sie sieht mich besorgt an. „Ich denke, ich habe bloß was Falsches gegessen. Den Fraß in dem Scheißverein da kann man ja kaum ertragen.“ Sie schüttelt leicht den Kopf. Ich stehe auf und gehe Richtung Bad, um mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Dann geht’s mir bestimmt besser.

Wir feiern mit der ganzen Familie oder gar nicht, sagte sie immer. Deshalb muss ich nicht nur meinen Bruder und meine Mutter ertragen, sondern auch noch meine bescheuerten Großeltern und meine Tante mit der Hakennase. „Wir sind doch eh keine richtige Familie!“, schreie ich durch den ganzen Flur. Keine Reaktion. Scheiß Weihnachten.

Weihnachten habe ich morgen überstanden und wie immer war meine hakennasige Tante wieder sternhagelvoll. Eigentlich war es ja ganz schön, aber wir waren eben nicht vollzählig. Aber scheinbar hat das niemanden gestört. Die sind bestimmt sogar froh, dass er tot ist. Niemand sieht gerne die Traurigkeit, die Angst und die Hoffnungslosigkeit eines Depressiven, eines Verrückten… Ja, sie sind froh das er weg ist. Und ich bin froh, wenn ich wieder hier weg bin.
Ich sehe aus den Fenster, sehe den Schnee, der die Äste des Baumes einhüllt. Schön sieht er aus, so ganz ohne Blätter, eingefroren und nackt. Mir kommen die Tränen…, ich habe ihn geliebt, so wie er war, still und einsam in seiner Welt versunken. Mal wieder kommt mein Bruder ohne an zu klopfen in mein Zimmer und redet los, ohne Luft zu holen. Ich höre nicht zu, denn ich habe noch nie verstanden, was er sagt. „Morgen bin ich wieder weg“, sage ich ohne ihn anzusehen. „Ja, ich weiß“, erwidert er und geht.

Scheiß Familie, scheiß Weihnachten, scheiß Leben, denke ich und muss nun endgültig heulen. „Kommst du zum Essen?“, ruft meine Mutter aus der Küche. „Ja, ich komme gleich“, schreie ich zurück und schon während ich es rufe wird mir schlecht und ich muss ins Bad renne. Nachdem es mir wieder etwas besser geht, sehe ich in den Spiegel und erschrecke mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Ich sehe alt aus, dabei bin ich erst 15 Jahre. Alt und müde, müde vom Leben, müde vom Nachdenken. Ich sehe auf dem Regal die Schere, sie glänzt und glitzert im Licht der Lampe.
Meine Hand greift nach der Schere. Ich habe keine Angst mehr, keine Gedanken, keine Tränen. Mit aller Kraft stoße ich mir die Schere in den Bauch und plötzlich fühle ich mich frei. Der Tod lächelt mir zu, mir wird warm und wohlig.

Dieser Eintrag ist Teil 4 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Unsanft werde ich gegen die Schulter gestoßen. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?!“ Ich erschrecke mich fast zu Tode. Meine Mutter sieht mich musternd an. „Jaja, ich komme doch schon zum Essen…“ antworte ich fast automatisch.
Sie geht. Das Gefühl ist weg… – Die Freiheit hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin wieder gebunden an meinen Körper.
Er ist kalt. Er fühlt sich falsch an. Ich sehe die Schere an. – Sie schreit fast nach mir. Ich strecke meine Hand aus, verharre einen Moment, lasse meine Hand sinken und folge meiner Mutter. Eine halbe Stunde lang stochere ich abwesend in meinem Essen rum… Ich habe keinen Hunger. Außerdem bin ich eh schon fett genug. Morgen kommen meine ganzen Verwandten… Ich hasse sie alle. Hoffentlich komme ich bald hier weg. Ganz weit weg. Wo mich keiner findet. Wo mich alle in Ruhe lassen. Ich wünschte, er wäre hier. Mein Vater. Er würde mich verstehen. „Er wird nicht zurückkommen.“, höre ich die Worte meiner Mutter in meinem Kopf. „Nie wieder.“… Tränen schießen mir in die Augen. Ich renne ins Bad, schließe die Tür ab und kauere mich auf den Boden.

Als ich aufblicke, sehe ich wie Blut an der Wand herunterfließt. Ein einzelnes Wort steht dort: „Lilly“. Hektisch sehe ich mich um. Als ich wieder an die Wand blicke, ist es verschwunden. Immer diese verdammten Halluzinationen. Ich schleppe mich in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und versuche ein Buch zu lesen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster. Die Äste des Baums wiegen sich im Wind. Der Baum, an dem sich mein Vater erhängt hat. Ich lege mich ins Bett und mir kommen die Tränen…

Ich wache auf. Mein Kopf dröhnt und mein Herz rast. Ich höre von unten lautes Gelächter und Musik. Was ist heute nochmal für ein Tag? Ach ja, es ist Weihnachten… Meine „wundervollen“ Verwandten sind da und es geht wieder dieses scheinheilige Familiendasein los. Wie toll. „Lilly, bist du schon wach?“, ruft meine Mutter hoch, „Komm doch runter. Es sind schon alle da.“ Schleppend stehe ich auf und ziehe meine Schlabberklamotten an. Auf Kleidchen und Schleifchen habe ich keinen Bock. Darauf habe ich sowieso nie Bock. Ich stehe auf übergroße Männerpullis und weite Hosen. Ich mache mich auf den Weg ins Bad. Ich fühle mich so dreckig.

Bestimmt werde ich krank… – Und wenn schon. Ich wasche mein Gesicht und bürste danach meine verknoteten Haare. Ich mag sie nicht. Sie wären schöner, wenn sie dunkler wären. Am liebsten hätte ich auch größere Brüste… Und wäre gerne dünner. Ein flacher Bauch, große Brüste und lange, schwarze Haare. Das wäre so perfekt. Dann würde ich mich wenigstens trauen, engere Kleidung zu tragen. Aber scheiß drauf, man kann ja nicht alles kriegen, was man will. Nachdem ich mir meine Zähne geputzt habe und meine Hausschuhe angezogen habe, gehe ich verschlafen die Treppe herunter. Unten angekommen, merke ich, wie ich angestarrt werde. Da sind sie ja alle: Meine Tante mit der Hakennase, mein Onkel mit dem fetten Bierbauch, meine klapprigen Großeltern, meine ach so perfekte Musterschülerin von Cousine, mein Cousin Edward und mein anderer Cousin, der eh aussieht wie der letzte Vollidiot. Alle gaffen sie. Warum glotzen die mich so an? Die haben sicherlich andere Probleme, als sich Gedanken über mich zu machen.

„Du bist aber groß geworden“, darf ich mir von meiner Großmutter anhören. Ist ja nicht so, als hätten wir uns vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Gewachsen bin ich auch nicht… Alles reden sie auf mich ein mit ihrem „Wie geht es dir?“ und „Schön, dass du da bist“, als würde ich nicht merken, dass dieses nette Verhalten bloß schlecht gespielt ist und mich keineswegs beeindruckt. Ich fühle mich unwohl. So unwohl, wie fast noch nie. Und überfordert. Langsam wird es draußen dunkel… „Oha, bist du fett geworden“, wirft mir meine Cousine an den Kopf. Dieses elende Miststück. Ich habe sie schon immer gehasst. Angenervt von ihrer Dreistigkeit, mich so scheiße zu behandeln, überkommt mich das Bedürfnis, ihr weh zu tun. So richtig weh zu tun, dass sie auf dem Boden liegt und heult. Sie soll bluten. Ich aus und haue in ihr hässliches Barbiegesicht – direkt auf ihre Nase. Sie hält sich ihr Gesicht und fängt an zu weinen. Es blutet nicht. Schade. „Spinnst du?!“, brüllt mich meine Tante an.

Es beeindruckt mich wenig, weil diese Frau nicht ernstnehmen kann. Gelassen schlendere ich zur Tür, schnappe mir meine Jacke und gehe aus dem Haus. Ich will rennen. Ganz schnell, bis ich nicht mehr richtig atmen kann. Also renne ich, so schnell ich kann. In den Wald, denn das ist der einzige Ort, wo ich mich halbwegs wohlfühle. Dort ist es ruhig. Dort ist niemand, der mich verletzen kann. Als ich ankomme, kann ich kaum atmen und breche fast zusammen.
Ich hasse sie, jeden einzelnen. Ich mochte sie noch nie. Ich will doch nur, dass mein Vater wieder da ist. Dann wäre alles wieder ok, dann wäre alles wieder gut. Ich fange schon wieder an zu heulen.

Immer noch bekomme ich kaum Luft. Es ist so kalt, dass ich meinen Atem sehen kann, aber Schnee liegt nicht. Meine Füße fangen an zu brennen und ich schaue hinab. Ich hätte mir Schuhe anziehen sollen… Aber irgendwie ist es mir dann doch egal. Ich richte meinen Kopf nach vorne und gehe den Weg entlang. In der Ferne ist eine Laterne. Im Licht der Laterne steht jemand. Irgendwie bekomme ich Angst und bleibe stehen. Ich versuche wegzurennen. Aber ich kann meinen Körper nicht beherrschen und bin wie angewurzelt. Ich beobachte die Silhouette der Person. Es scheint, als würde sie mich anstarren. Mir ist so kalt…

Aus weiter Ferne höre ich meinen Namen. Ich versuche mich zu konzentrieren. – Ja, jemand ruft nach mir. Ich kann meine Augen nicht öffnen und einige Sekunden lang glaube ich, ich sei blind. „Lilly, du musst aufstehen“, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist die Stimme meiner Mutter. Mit aller Kraft öffne ich meine Augen und was ich sehe verwirrt mich.
Ich sehe einen kleinen Eisbären, der mir eine rote Rose entgegenstreckt. Ach du Scheiße, denke ich, jetzt bin ich wirklich total abgedreht. „Lilly – wir müssen gleich los“, ruft meine Mutter noch mal. Sie kommt in mein Zimmer, in der Hand hält sie ein Glas Saft und meine Pillen. Seitdem ich hier bin, achtet sie genau darauf, das ich die verdammten Dinger schlucke. Wie im Knast. Zeig mir deine Hände, mach den Mund auf, sind auch alle weg und so weiter.

Erst jetzt wird mir bewusst, wo ich eigentlich bin. Wie ein kleines Kind liege ich im Bett. Mit einem Eisbärschlafanzug und einem Kuschelkissen aus rosa Plüsch neben mir. „Komm schon, du musst die Tabletten nehmen, wir wollen doch nur dein Bestes“, sagt meine Mutter mit einer Stimme, die mir Angst macht. Sie spricht mit mir, wie mit einer Verrückten. So wie sie damals mit meinem Vater gesprochen hat. Ich schlucke die Tabletten runter. Mir bleibt eh nichts anderes übrig. „Dann zieh dich mal an, in zwei Stunden müssen wir los“, sagt sie und geht wieder nach unten.
Langsam stehe ich auf und sehe in den großen Spiegel. Ich sehe aus wie früher. Wie früher, als alles noch gut war, Als ich noch ich war.

Die welligen Haare stehen in alle Richtungen und meine grünen Augen hab‘ ich wohl von meinem Vater geerbt. Nur die vielen Narben waren früher noch nicht da. Plötzlich spüre ich, wie die Traurigkeit in mir hochkriecht. Wie eine riesige Schlange windet sie sich um meinen Hals und versucht mich zu erwürgen. Die Medikamente machen mich schwach und ängstlich, denke ich und in dem Moment beschließe ich, nie wieder nehme ich diese Pillen. Egal, was passiert. Mit diesem Entschluss lächle ich mein Spiegelbild an und freue mich sogar ein wenig.

Ich betrachte mich genau, aber es kommt mir vor, als sei die Person im Spiegel nicht ich. Meine Augen fühlen sich komisch an und ich fange an zu reiben. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was wirklich passiert und was nicht… Ich versuche mich zu erinnern: Was ist an Weihnachten passiert? Nichts. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. War überhaupt schon Heiligabend? Fragend sehe ich mich um, um irgendetwas zu finden, was mir hilft, mich zu erinnern oder irgendwelche Zeichen gibt. Wie erwartet: Ich finde nichts. Alles ist genau wie immer. Wie jeder verdammte Tag, den ich hier verbracht habe. Irgendwie bin ich traurig, aber ich fühle, wie etwas dieses Gefühl unterdrückt. Ich öffne meine Zimmertür. Jetzt sehe ich es: im Flur vor meiner Zimmertür sind ein paar Geschenke gestapelt:
zwei kleine und ein etwas größeres. Eingepackt in weihnachtliches Geschenkpapier. Mit Tannenbäumen, Rentieren und so was. Meistens bekomme ich eh nur Mist geschenkt. In Gedanken versunken versuche ich wieder, mich zu erinnern…

„Oma? Warum ist Papa eigentlich so geworden, wie er war?“ „Weißt du, Lilly… vor deiner Mama war er schon mal verheiratet. Und er hatte mit der anderen Frau bereits einen Sohn. Er war fast 4 Jahre alt…“, erzählt sie langsam und ruhig. „War?“, frage ich mit großen Augen. „Was ist passiert?!“ „Seine damalige Frau und ihr gemeinsamer Sohn starben. Sie sind bei einem Motorbootunfall gestorben. Er hat sich dafür immer die Schuld gegeben.“
Ich sehe Tränen in ihren Augen. Es berührt mich nicht. Ich spüre Traurigkeit. Ich will schreien – ich will weinen. Aber es geht nicht. Ich kann sie nur anstarren. „Aber… wie ist das passiert?“, frage ich mit zitternder Stimme. „So, wie er mir das erzählt hat, passierte das im Urlaub. Das ist jetzt schon über 20 Jahre her… Er ist einfach zu schnell gefahren. Du weißt doch, wie Männer sind. Sein Sohn… Mathias hieß er… er fiel ins Wasser. Und die Mutter sprang natürlich sofort hinterher.“ „Moment mal… heißt das, ich hätte noch einen großen Bruder gehabt?!“ „Ja, das heißt es, mein Kind… – Sie sind beide ertrunken. Ein großes, vorbeifahrendes Schiff hat die beiden erfasst.“

Ich falle auf die Knie. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und Tränen rollen mir über die Wangen. Warum weine ich?… Die Tränen hören nicht auf zu fließen. Ich schaue auf. Vor mir sehe ich meine Geschenke unausgepackt liegen. „Lilly? Bist du fertig? Wir fahren gleich los.“, ruft meine Mutter von unten hoch. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, setze ein Lächeln auf und antworte, als sei nichts gewesen: „Ich komme sofort.“

Dieser Eintrag ist Teil 5 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Ich schnappe mir meine Tasche und meine Geschenke, die immer noch ungeöffnet auf dem Boden liegen und renne nach unten. Mein Bruder steht am Ende der Treppe und scheint auf mich zu warten. „Was willst du?“ frage ich ihn und merke selbst wie aggressiv das klingt. „Ich? Ach nichts“, sagt er und sieht weg. „Ok. Bis dann mal!“ rufe ich zum Abschied über die Schulter und schon bin ich im Auto. „Kann’s losgehen?“ fragt meine Mutter. Ich nicke ihr zu und schon fährt sie los. Irgendwie geht jetzt alles zu schnell, sogar die Bäume am Straßenrand rauschen an uns vorbei. Ich möchte schreien: „Fahr doch langsamer – ich möchte noch bei euch sein!“ Doch ich kann es nicht. Mein Herz tut mir weh und ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen. Angst und Einsamkeit kriechen an mir hoch. Ich versuche zu schlafen, doch meine Mutter redet unaufhörlich auf mich ein. Von dem was sie sagt verstehe ich kein Wort.

Ich denke an meinen toten Bruder, an das Boot, an Weihnachten… Das Auto bleibt stehen und ich höre meine Mutter fröhlich sagen: „Wir sind da.“ Als hätten wir einen Sonntagsausflug gemacht oder sowas. Ich weiß auch nicht, was sie sich dabei denkt. Es ist schon dunkel und aus den Fenstern scheint warmes Licht nach draußen. Irgendwie bin ich erleichtert wieder hier zu sein und doch bin ich auch traurig, das ich hier sein muss. „Soll ich mit reinkommen?“, fragt meine Mutter. „Nein, lieber nicht“, sage ich. Sie soll nicht merken, wie traurig ich bin. Niemand soll es merken. Niemals.

Ich gehe rein ohne mich nochmal um zu drehen und höre das Auto wegfahren. Als erstes fällt mir der Tannenbaum auf, der im Flur steht. Schön geschmückt, mit roten Kerzen und blauen Kugeln. Unter dem Baum liegen Geschenke und im vorbei gehen lese ich meinen Namen. Scheiß drauf, denke ich und versuche so schnell wie möglich in mein Zimmer zu kommen. Jemand ruft mich und genervt drehe ich mich um. Es ist Johannes, der mich freudestrahlend ansieht. „Hallo, Lilly, hattest du eine schöne Zeit zu Hause?“, erwartungsvoll sieht er mich an. „Geht so“, sage und drehe mich weg. Schnell gehe ich in Richtung meines Zimmers. Ich spüre seinen Blick in meinem Nacken und gehe noch etwas schneller.
In meinem Zimmer angekommen schließe ich hastig die Tür hinter mir. Meine Zimmergenossin ist noch bei ihren Eltern.

Endlich allein, denke ich und werfe die Weihnachtsgeschenke auf mein Bett. Fast im selben Moment sehe ich ein Päckchen auf dem Stuhl liegen. Eingepackt in braunem Papier, mit einer roten Schleife. Ich sehe es mir an und mein Herz schlägt schmerzhaft gegen meine Rippen. Meine Augen füllen sich mit Tränen und mir wird schlecht. Das kann nicht sein, denke ich. Auf der Karte steht: „von Florian – für Lilly“. Leise klopft es an der Tür und ein blonder Junge mit strahlend blauen Augen steckt seinen Kopf zur Tür herein. „Hey, ich bin Kai, der neue Praktikant, darf ich reinkommen?“
Mein Mund ist ganz trocken, ich starre ihn an und kann nur nicken. Plötzlich höre ich ein Rauschen und mein Kopf dröhnt…

„Lilly? Bist du fertig? Wir fahren gleich los.“, ruft meine Mutter von unten hoch. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, setze ein Lächeln auf und antworte, als sei nichts gewesen: „Ich komme sofort.“ „Ich komme sofort.“ Meine Oma schwelgt in traurigen Erinnerungen. Ich sehe zu ihr, doch sie scheint schon weit weg zu sein und bemerkt nicht, wie schnell ich wieder lächle. Wahrscheinlich hat sie nichtmal bemerkt, dass ich geweint habe. Niemand bemerkt, wie es mir geht, wenn mich etwas berührt. Und wenn doch, dann bin ich sofort abnormal. Leicht schüttle ich über die eigenen Gedanken den Kopf und mache mich eben fertig, damit meine Mutter nicht sieht, dass ich wieder geweint habe. Sie muss mich ja nicht wieder mit ihren Blicken bemitleiden wie krank ich doch sei. So laufe ich danach schnell die Treppe hinunter, schließlich würden sie sonst wieder rufen und noch ungeduldiger werden.

Sobald ich unten angekommen bin, verlassen meine Mutter, meine Cousine und ich das Haus und steigen in das Auto. Meine Mutter und ich vorne, meine Schwester hinter meiner Mutter. Sie hatte mich nicht gerne hinter sich sitzen, als befürchte sie, ich würde ihr an den Hals fallen. Absurd. Natürlich kam mit der Gedanke schon mehrfach, doch war der richtige Moment dafür noch nicht gekommen. Gelangweilt schaue ich aus dem Fenster, als wir losfahren. Wo fahren wir eigentlich hin? Ich weiß es nicht mehr – eine weitere Gedächtnislücke. Doch nachfragen will ich auch nicht.
Kurz schaue ich nicht nach vorne, schaute aus dem Seitenfenster und beobachte den riesigen Fluss, welcher neben der Straße her fließt. Ich muss wieder an meinen großen Bruder denken, den ich nie kennen gelernt habe. Ob er sehr gelitten hat? Ertrinken soll ein grausamer Tod sein. Mathias… Er wäre sicher ein toller Bruder geworden.

Kurz schließe ich die Augen, um mir vorzustellen, wie er heute wohl ausgesehen hätte, da wurde ich nach vorne geschleudert. Der Sicherheitsgurt hält mich noch gerade so und schneidet in meine Schulter. Mein Bruder Dennis und meine Mutter schreien, der Wagen fährt mit quietschenden Reifen von der Straße auf den Fluss zu. Oh Gott, nein! Durch den Abhang werden wir im Auto herumgeschleudert, meine Mutter versucht den Wagen zum Halten zu bringen und unter Kontrolle zu bekommen. Das laute Hupen des LKWs auf der Straße, welcher uns beinahe gerammt hätte, wurde von dem Schreien übertönt.Auch ich schreie, schaue entsetzt zu dem Fluss, welchem wir immer näher Kommen, versuche mich festzuhalten…

Im nächsten Moment wird es still, mit einem Mal hält der Wagen beinahe und poltert nicht mehr.
Langsam sinkt er runter, Schwester und Mutter versuchen sich schnell abzuschnallen, während das Wasser schnell in den Wagen eindringt und das Auto im Fluss versinkt. Vollkommen starr vor Panik und Unglauben starre ich auf das Wasser, versuche nicht einmal mich zu befreien, mich abzuschnallen oder die Türen zu öffnen. Dies ist durch das Wasser sowieso nicht mehr möglich. Die panischen Worte der beiden anderen bekomme ich nicht mehr mit, während ich darüber nachdenke, ob ich nun herausfinde, wie sich mein großer Bruder wohl gefühlt hat. Ertrinken.

Ich hatte mir einen anderen Tod vorgestellt… Halt, warte! Irgendwas stimmt hier nicht. Wie in einem schlechten Film hält die Zeit an und ich sehe zu meiner Mutter. Das stimmte nicht. Ich fahre nicht Auto. Der Praktikant, Kai, und das Päckchen. Genau! Das Päckchen von Florian. Wieder zieht sich in mir alles zusammen und mein Puls steigt, während die Umgebung vor meinen Augen verwischt… Mehrmals blinzle ich, ehe ich die Augen aufschlage und an eine weiße Decke starre. Bin ich umgekippt? Ich drehe den Kopf zur Seite und blicke direkt in die großen, blauen Augen des Praktikanten.

Er blickt behutsam auf mich herab. „Kaum, dass ich reinkam, bist du zusammengebrochen… Ich habe mich riesig erschrocken.“ Erklärte er und mir entwischt ein leises Seufzen, ehe ich mich aufsetze. „Ich war nur müde.“ „Sicher? Es sah nicht-“ „Müde! Ich war… und ich BIN müde, Kai.“ Er antwortete nicht weiter, steht auf und ging zur Zimmertür. Er hat mich wohl auf mein Bett gelegt. „Dann… schlaf gut…?“ fragt er unsicher, mich nochmal mit diesen strahlenden, blauen Augen ansehend, als wolle er direkt durch mich hindurchsehen. „Danke.“ antworte ich patziger, als gewollt und lasse ihn gehen. Sobald die Tür wieder zu ist, lasse ich mich nach hinten aufs Bett fallen und starre wieder an die Decke…

Ich lege mich unter die Decke und ziehe sie über meinen Kopf. Scheiße, scheiße, scheiße. Was war das denn schon wieder? Ich reiße an meinen Haaren und bekomme allmählich ein Brennen in meinen Augen. Ich rolle mich zusammen und merke, wie Tränen an meinen Wangen herunterlaufen. Es klopft erneut an der Tür. Genervt schrecke ich auf und wische mein Gesicht mit meinen Ärmeln ab. Anschließend setze ich mich auf. „Was ist?!“, schreie ich. Die Tür öffnet sich und jemand betritt den Raum. Es ist Florian.

Was will der denn schon wieder? Er kommt näher, schaut mir in die Augen und fängt an zu lächeln. „Hi… Wie geht’s dir? Wie war Weihnachten?“, erkundigt er sich. „Was willst du?“, raune ich. „Ich wollte nur reden. Fragen, wie es dir geht und so, weißt du?“, antwortet er. „Das kannst du dir sonst wo hinschieben“, brumme ich. „Kannst du jetzt abhauen? Ich will wenigstens ein paar Stunden Ruhe vor dir und den ganzen anderen Vollidioten haben.“ Sein Grinsen verflog. Sprachlos verlässt er den Raum und schließt die Tür fast lautlos. Schwachkopf. Ich lass mich wieder auf’s Bett fallen und drehe mich auf die Seite. Das Gefühl der Müdigkeit überführt mich und ich schlafe ein.

Ich öffne meine Augen. Noch müde setze ich mich langsam auf und schaue auf die Uhr, die sich neben meinem Bett befindet. Es ist 22:46 Uhr. Ich habe wohl den halben Tag verpennt. Ich stehe auf und schlendere zum Badezimmer. Den Lichtschalter umlegend schaue ich in den Spiegel. Ich schaue mir in die Augen, tief in die Augen. Schon allein dadurch, mich anzustarren, kommen mir wieder Tränen hoch. Schon wieder fange ich an zu heulen. Dieses Mal jedoch wehre ich mich nicht dagegen. Ich sinke zu Boden, rolle mich zusammen und lasse meinen ganzen Schmerz raus. Ich klage und jammere, hoffend, dass das niemand mitbekommt.

Dieser Eintrag ist Teil 6 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Warum musste diese ganze Scheiße passieren? Warum musste ich bloß in dieser Klapse enden? Mich wieder beruhigend stehe ich angestrengt auf und wasche mein Gesicht. Ich halte einmal inne und gehe wieder zurück in mein Zimmer. Auf einmal sitzt da jemand auf einem Stuhl, der sich vor dem Fenster befindet. „Was ist los?“, fragt Ute mich besorgt. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und bekomme kein Wort hoch. Sie steht auf und bewegt sich zu mir. Mein Magen zieht sich zusammen und ich schaue sie bloß an – angewidert von der Vorstellung, dass sie mich gehört hat. „W-warum bist du hier?“, stottere ich. „Willst du mich verarschen? Wir teilen uns dieses Zimmer. Außerdem mache ich mir Sorgen um dich.“

Ich bin einerseits gerührt, aber dennoch ist es mir peinlich, was mir das Verlangen gibt, sie anzuschreien, dass sie doch abhauen solle – doch irgendwie ist mir gerade nicht danach… Nun steht sie direkt vor mir. Sie schaut in mein Gesicht, in meine verheulten Augen und ich in die ihren – grün wie eine saftige Wiese. Plötzlich umarmt sie mich. „Wenn was ist, bin ich immer für dich da. Ich verspreche es.“ Meine Augen brennen wieder, doch ich will nicht wieder heulen. Ich will ihren Griff lösen und versuche es anfangs, doch letztendlich lasse ich es… Denn es ist ein schönes und warmes Gefühl. So warm war mir lange nicht mehr. Ihr Rumgebrülle fällt mir auch nicht mehr auf. Ich erwidere ihre Umarmung und schluchze leise.

Völlig übermüdet wache ich auf – mein Arm tut höllisch weh. Als ich die Augen öffne, sehe ich Ute neben mir in meinem Bett liegen – auf meinem Arm. Ich ziehe ihn langsam und vorsichtig unter ihr weg. Wenn sie aufwacht, brüllt sie bestimmt wieder rum. Das kann ich am frühen Morgen gar nicht gut vertragen. Ich klettere leise über sie rüber und gehe ins Bad. Den Blick in den Spiegel hätte ich besser nicht riskiert – dunkle Ringe unter meinen Augen, meine Haut noch blasser als sonst. Zerzaustes, dunkelbraunes, schulterlanges Haar, fett wie immer und ein riesiger, hässlicher Pickel auf der Stirn. Verdammt, bin ich hässlich.

In solchen Momenten wünschte ich mir, ich hätte wie andere Weiber 100 Kilo Schminke, die ich mir in die Fresse klatschen kann. Aber eigentlich finde ich das ekelhaft. Nachdem ich im Bad fertig bin, klettere ich wieder über Ute ins Bett. Dass es recht eng ist, ist mir egal. Ich bin eh kurz davor, im Stehen einzuschlafen. Außerdem ist Ute eh nur ein halbes Hemd – wegen ihrer Magersucht. Als ich aufwache, ist Ute verschwunden und die Sonne scheint in das Zimmer.
Als wäre die Sonne noch nicht schlimm genug, klopft es jetzt auch noch an der Tür. Die wissen doch, dass ich schlecht drauf bin, wenn ich gerade aufgewacht bin.

„Was ist denn?!“ Mechthild öffnet die Tür und kommt rein. „Ich hab‘ nicht gesagt ‚Herein‘. Ich habe gesagt: ‚Was ist denn?!‘ – aber ist ja jetzt auch egal…“ murmele ich. Sie wirft mir einen verständnislosen Blick zu und sagt: „Es ist Nachmittag. Du hast schon wieder eine Kunst-Therapie verpasst. Wenn du so weitermachst, bekommst du eine Ausgangssperre.“ – „Willst du mich verarschen? Was kann ich dafür, wenn mich in diesem Saftladen keiner weckt?“
Einen Moment lang starren wir uns gegenseitig an. Dann sagt sie ruhig: „Ich habe dich drei mal geweckt. Jedes Mal hast du einfach weitergeschlafen.“

Daran kann ich mich irgendwie gar nicht erinnern… „Oh…“, sage ich verlegen. „Steh jetzt bitte auf, du hast in einer halben Stunde dein Gespräch bei Johannes. Das ist wirklich wichtig… Deine Mutter wird auch dabei sein. Es sei denn, du willst deine Diagnose nicht hören.“ Ach du scheiße, das ist ja heute. Und meine Mutter ist auch noch dabei… Mal sehen, was die sich für einen Quatsch ausgedacht haben. Immerhin kreuze ich bei den ganzen Tests und Stimmungskurven einfach nur irgendein Zeug an. Hauptsache, die drehen mir nicht schon wieder irgendwelche Tabletten an. Bevor ich es merke, ist Mechthild schon wieder verschwunden. Merkwürdige Frau. Und während ich mir die Zähne putze, denke ich darüber nach, wie ich sie am besten loswerden könnte…

Immernoch im Gedanken bei Mechthild verlasse ich mein Zimmer und gehe mit gesenktem Kopf Richtung Küche. Wieso habe ich nur immer das Gefühl alle würden mich anstarren? Bin ich so was wie ein Monster oder hab ich Blut im Gesicht oder was? Scheiß drauf. Ich setze mich an den Tisch. Mal wieder ein scheiß Tag, ich wünschte meine Mutter hätte eine Autopanne und das Gespräch mit Johannes würde nicht stattfinden. Aber bei meinem Glück passiert das garantiert nicht. Mechanisch kaue ich auf dem Brötchen herum und fast verschlucke ich mich, als Kai freudestrahlend in die Küche kommt.

„Na, wie geht’s?“, fragt er und sieht mir direkt in die Augen. Das ist mir irgendwie peinlich, ich weiß auch nicht, warum mir so was immer unangenehm ist. „Geht so“, presse ich hervor und fast fällt mir ein Stück Brötchen aus dem Mund. Wie peinlich ist das denn, denke ich und werde rot, das fühle ich sofort. „Haben heute das Gespräch mit Johannes und meiner Mutter, vielleicht kann ich ja bald zurück.“ murmele ich. Zurück? Wo soll das eigentlich sein, dieses Zurück?
„Ok, dann mal viel Glück und halt die Ohren steif „, sagt Kai und verschwindet Richtung Flur. Um 10 Uhr soll das Gespräch stattfinden – noch 15 Minuten. Ich trinke mein Glas Wasser im Stehen aus und gehe zu Johannes Bürotür. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Plötzlich geht die Tür auf und Johannes steckt seinen Kopf durch den Spalt.

„Ach, da bist du ja schon, komm doch rein oder willst du hier draußen auf deine Mutter warten?“, fragt er und sieht mich ernst an. „Ich komme mit rein, wer weiß wann die auftaucht…“, sage ich und schiebe mich an ihm vorbei. Nach einer Ewigkeit erscheint dann meine Mutter. Hochglanzgestylt, Parfümnebelschwaden verteilend kommt sie hereingestürmt. „Oje, bin ich etwa zu spät dran?“, fragt sie mit beschämtem Gesicht. Johannes schweigt und ich kann sie nur anstarren. Meine Mutter! Wie immer – nur peinlich. „Nein, nein, es wäre nur gut, wenn wir sofort anfangen könnten, ich habe heute noch viele andere Termine“, sagt Johannes.

Ich nicke und meine Mutter sieht ihn lächelnd an. „Ich versuche natürlich alles so verständlich zu erklären, wie es mir möglich ist. Das gesamte Team hat mehrmals über Lillys Situation gesprochen. Viele Diagnosen, ja, ich sagte viele, sind eindeutig. Andere dagegen sind noch etwas unklar. Lilly leidet eindeutig an einer posttraumatischen Belastungstörung. Darüber hinausgehend hat sich eine SVV-Störung (Selbst-Verletzendes-Verhalten) manifestiert, was allerdings keine eigenständige Diagnose beinhaltet. Sie zeigt eine akute Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ebenfalls ist eine Schizophrenie nicht völlig auszuschließen. Alles in Allem, können und dürfen wir Lilly in diesem Zustand nicht gehen lassen. Sie ist eine Gefahr für sich und für Andere. Es tut mir wirklich sehr leid“, sagt Johannes und atmet tief ein. Ich starre ihn an und in meinem Kopf fängt es wieder an zu rauschen und ich habe nur noch den Wunsch zu töten. Alle die hier sind zu töten, egal wie.

Ich schaue zu meiner Mutter und warte auf ihre Reaktion. „Sind Sie sich da sicher?“, fragt sie Johannes mit ungläubigem Blick. „Ja, sehr sicher. Anfangs war ich ebenso skeptisch wie Sie, aber ihr bisheriges Verhalten in der letzten Zeit hat diese Thesen bestätigt. Wir hatten ebenso gehofft, es würde besser werden… Jedoch ist es das genaue Gegenteil. Es wird immer schlimmer“, erklärt er. Was wird schlimmer? Etwa mein Verhalten? Manchmal frage ich mich, was die hier alle geraucht haben. Wie soll man sich denn bei den ganzen Bekloppten hier normal verhalten?! „Verstehe…“, meint meine Mutter und zieht eine Augenbraue hoch, bei der ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob sie nun echt ist oder bloß aufgemalt ist. „War das alles?“ „Äh… Ja. So in etwa. Lilly sollte außerdem noch ein paar Monate hier verweilen. Meine Kollegen und ich werden uns diesbezüglich noch beraten. Ich werde Ihnen weitere Informationen zukommen lassen.“

Meine Mutter und Johannes stehen auf und gehen in Richtung Tür. Und ich, ich sitze noch auf diesem Stuhl. Diesem kratzigen Scheißding. Gedankenlos starre ich Löcher in die Luft und merke allmählich, wie mir schwarz vor Augen wird. Als ich meine Augen aufmache, finde ich mich auf meiner Mutter vor. Ich halte eine Schere in der Hand und halte sie ihr an den Hals. Johannes steht wie angewurzelt neben mir. Als wüsste er nicht, was er tun soll. Ich sehe die Angst in den Augen meiner Mutter. Diese Angst… Irgendwie macht es mich glücklich. Die Panik davor, damit zu enden, von der eigenen Tochter die Kehle aufgestochen zu kriegen. Aber ist das gut so? Sollte ich meiner Mutter wirklich so was derartiges antun? Wollte ich ursprünglich nicht, dass alles wieder gut wird und ich aus dieser Bruchbude rauskomme? Dass ich wieder zu Hause sein kann, um wieder diesen kitschigen Schlafanzug zu tragen und dieses köstliche Essen meiner Mutter zu genießen? Dass ich mich wieder entspannen kann? Meine Augen fangen an zu brennen und ich lege die Schere beiseite.

Mal wieder muss ich heulen. Warum bin ich nur so schwach? Wie ein Wasserfall laufen Tränen an meinem Gesicht herunter. Auf einmal zieht mich jemand ruckartig nach oben. Es ist Johannes. Er hält mich fest und sieht mich mit seinen durchdringenden Augen an. Dieser Blick beruhigt mich irgendwie auf gewisse Art und Weise. Aber… irgendwas stimmt nicht. Woher kommt das Mädchen, was sich hinter Johannes befindet? Ich sehe mich hektisch um und versuche, Johannes‘ Griff zu lösen mit meiner ganzen Kraft. Plötzlich höre ich ein lautes Rauschen, welches sich grässlicher als so manch andere Geräusche anhört. Es fühlt sich so an, als würden meine Ohren zerfetzt werden. Gerade, als das Rauschen verstummt, höre ich, wie jemand mit mir redet: „Lilly, willst du das? Willst du, dass das so endet?“ Bin ich wirklich so bekloppt, wie andere behaupten, oder weshalb höre ich mittlerweile, wie irgendwelche nicht existierenden Weiber mit mir reden? Mir wird wieder schwarz vor Augen und ich falle zu Boden.

Dieser Eintrag ist Teil 7 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Es ist unglaublich ruhig. Als ich aufwache, stehe ich auf einer Straße. Meine Mutter und mein Bruder neben mir. Von hier aus hat man einen guten Ausblick. Es scheint eine Straße zu sein, die auf einen Berg führt. Kein Auto weit und breit. Kein Bürgersteig. Ich stelle mich an die Leitplanke, hinter der es steil bergab geht und lasse meinen Blick über die Waldlandschaft streifen. Ich drehe mich zu ihnen, versuche etwas zu sagen, aber kein einziges Wort kommt aus meinem Mund. Meine Mutter und mein Bruder starren gebannt an mir vorbei auf die Landschaft. Ich drehe mich wieder um und sehe wie am Horizont etwas passiert. Genau kann ich es nicht erkennen, aber es kommt schnell näher.
Plötzlich realisiere ich, was das ist: Eine gigantische Druckwelle kommt auf uns zu! Bäume werden plattgedrückt, rausgerissen oder fliegen durch die Gegend. Ich will meine Mutter und meinen Bruder anschreien, dass sie weglaufen sollen, doch statt dass Wörter aus meinem Mund kommen, fallen alle meine Zähne aus! Ich werfe mich auf den Boden, jeden Moment einen riesigen Knall erwartend…

In dem Moment schlage ich meine Augen auf – Schweiß steht mir auf der Stirn. Alles ist verschwommen. Ich liege in „meinem“ Bett – mit Fesseln fixiert. Hektisch sehe ich mich um. „Wollt ihr mich jetzt alle verarschen?!“, schreie ich. Ich reiße mit Händen und Füßen an den Fesseln, die mich am Bett festhalten. Da tut sich nichts. Plötzlich sehe ich ein vertrautes Gesicht genau vor mir und werde ganz ruhig. Es ist Kai. „Alles ist in Ordnung, mach dir keine Sorgen“, sagt er mit angenehmer Stimme. „Alles in Ordnung?! Bist du bescheuert? Ich bin am Bett festgekettet!“ Er sieht mich besorgt an, legt seine Hand auf meine und sagt ruhig: „Wir wussten nicht, wie du reagierst, wenn du aufwachst. Die Ärzte mussten dir starke Beruhigungsmittel geben. Kannst du dich an das erinnern, was passiert ist?“ Es rattert in meinem Kopf – er tut weh.

Ich reiße meine Augen auf und starre ihn an. „Habe ich jemandem etwas angetan?!“, platzt es aus mir heraus. „Nein, es ist noch mal alles gut gegangen“, erklärt er mir, während er mir ein paar Haare aus dem Gesicht streicht, „aber dein Zustand verschlimmert sich stetig.“ Ich lasse meinen Kopf auf das Kissen sinken. Kai steht auf und geht in Richtung Tür. – Ich sehe ihm hinterher. „Mechthild kommt gleich und macht dir das Fixierband ab, damit du aufstehen kannst. Wir sehen uns später.“ „Bis später“, sage ich leise. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, aber dann geht die Tür endlich auf und Mechthild kommt herein. Ich war noch nie so froh, diese Frau zu sehen. Immerhin erinnert sie mich an meine Mutter. Zumindest optisch. Leicht übergewichtig, ein bisschen länger als schulterlange, rot gefärbe Haare, eine ähnliche Frisur, ähnliche Gesichtszüge, eine Parfumwolke hinter sich herziehend…

Sie redet auf mich ein, mal wieder, während sie mich endlich von den Fesseln befreit. Und ehe ich mich versehe ist sie schon wieder weg. Irgendetwas von Medikamenten hat sie gefaselt. Die Tür geht wieder auf und sie drückt mir eine blau-rote Kapsel und ein Glas Wasser in jeweils eine Hand. So eine riesige Kapsel habe ich noch nie gesehen. Wie soll ich das runterbekommen? Ich sehe sie fragend an. „Mach schon. Es sei denn, du willst wieder eine Spritze.“ Ich nehme die Kapsel in meinen Mund und nehme einen großen Schluck Wasser. Ganz langsam und schmerzhaft rutscht es mir die Speiseröhre herunter und ich verziehe mein Gesicht. „In ein paar Minuten gibt es Essen“, sagt Mechthild, nimmt mir das Glas aus der Hand und verschwindet wieder. Langsam stehe ich auf. Meine Beine sind total wackelig. Was haben die mir schon wieder für Drogen verabreicht? Ich weiß es nicht.

Ich gehe ins Bad, schließe die Tür ab und wasche mein Gesicht. Scheußlich fühle ich mich. Ich kann kaum nachdenken und das Pochen der Kopfschmerzen wird stärker. Plötzlich werde ich von hinten umarmt. Ich reiße mich los und fahre herum. Dieses Mädchen schon wieder! Sie steht genau vor mir und es fühlt sich an, als würde sie mir mit ihren intelligent wirkenden, eisblauen Augen direkt in die Seele starren. Sie wirkt mager und hat sehr weiche Gesichtszüge.
Ich habe sie gesehen kurz bevor… mir wird schwindelig und meine Sicht verschwimmt. Das Rauschen in meinen Ohren wird wieder lauter, meine wackeligen Beine lassen nach und ich muss mich am Waschbecken stützen. Sie verpasst mir eine Backpfeife. „Was ist los mit dir?“, sagt sie mit einer Stimme die durch Mark und Bein geht, „Wenn du so weiter machst, gehst du den Bach runter.“

Erschrocken sehe ich sie an. Plötzlich ist alles unglaublich klar. Mein Blick richtet sich langsam zur Tür, bei der ich sicher war, dass ich sie verschlossen hatte. „Komm jetzt. Es gibt Essen“, sagt das Mädchen, fährt sich mit einer Hand durch ihre blonden Haare und verschwindet durch die weit offen stehende Badezimmertür. Ich bleibe wie versteinert stehen und starre ihr hinterher. Ich lege meine Hand auf meine schmerzende Wange. Langsam wäre eher die Frage interessant: Was habe ICH eigentlich geraucht?

Ein schwacher Windhauch lässt mich zusammenzucken. Ich sehe aus den Augenwinkeln blondes Haar und ertappe mich dabei, wie ich mein eigenes Haar mit den Fingern durchkämme. Ich starre in den Spiegel. Was ich dort sehe lässt mein Herz aufhören zu schlagen. Die Angst überwältigt mich und ich zittere am ganzen Körper. Ich habe die Kontrolle verloren. „Kommst du jetzt endlich zum Essen?“ Die Stimme ist mir vertraut, eine sanfte, fröhliche Stimme. Kai steht vor mir und sieht mich erwartungsvoll an. „Komm doch. Bitte!“ „Ich habe aber gar keinen Hunger. Muss ich denn?“ „Ja, du musst, mir zuliebe, ok?“ „Na gut, du lässt mich ja sonst eh nicht in Ruhe.“ Schweigend gehen wir in die Küche. Ich riskiere einen Blick in Kais Richtung. Er ist echt toll. Was er wohl über mich denkt… Bestimmt nichts Gutes, so wie ich drauf bin kann man es ihm auch nicht verübeln. Ich finde mich ja selber scheiße und so wie ich aussehe… Er hat bestimmt schon eine tolle Freundin. So eine mit langen blonden Haaren, langen Beinen und immer gestylt.

Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und stochere in dem Essen herum. So ein bekloppter Tag. So ein beschissen-bekloppter Tag. Gefühlte Stunden später, stehe ich einfach auf und verschwinde in meinem Zimmer. Ich fühle mich leer und erschöpft. Wie ausgesaugt. Eine bleiernde Müdigkeit überkommt mich. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwache ist es schon dunkel. Ich starre in die Dunkelheit, eigentlich habe ich Angst im Dunkeln. Ein leises Scharren, wie Fingernägel, die an der Wand entlanggleiten, lässt meine Angst noch wachsen. Das Geräusch wird lauter, bedrohlicher. Schlafe ich vielleicht noch? Angestrengt starre ich in die Dunkelheit, unfähig mich zu bewegen. Das Atmen fällt mir schwer, ich unterdrücke den Schluckreflex. Was ist das für ein fürchterliches Geräusch? „Lilly, Lilly, hörst du mich?!“ „Lilly, komm zu mir, hilf mir! Lass mich nicht allein hier, du bist doch mein Mädchen.“ Die Stimme lässt mir Tränen in die Augen schießen. Plötzlich bin ich wieder ein kleines Mädchen und der Baum vor meinem Fenster wiegt sich sanft im Wind hin und her.

Ich schüttele wild den Kopf. Nein, nein! Das kann nicht sein! Ich drücke mein Gesicht in ein Kissen und schluchze. Plötzlich wird mir das Kissen weggerissen und ich bekomme einen Schlag ins Gesicht. „Was stimmt mit dir nicht? Kannst du mal aufhören rumzuheulen?“ Benommen vom Schmerz und völlig erschrocken weiß ich gar nicht, was los ist.
Vor mir steht jemand im Dunkeln. „Steh auf. Wir müssen los“, sagt die Person – wieder mit dieser eindringlichen Stimme. Fast automatisch stehe ich auf. Im Mondlicht erkenne ich sie: es ist das blonde Mädchen. „Los jetzt!“ Völlig lautlos und ohne Mühe öffnet sie die schwere Holztür und einen Moment später ist sie bereits verschwunden. Langsam fällt die Tür zu. Ich haste leise zur Tür und halte sie im letzten Moment fest, damit sie nicht durch den automatischen Türschließer, der wie immer zu stark eingestellt ist, zuschlägt.

Dann riskiere ich einen Blick durch den Spalt. Der Gang ist dunkel und leer. Ganz hinten an der Ausgangstür sehe ich sie. Wie zum Teufel ist sie an dem Nachtbetreuer vorbeigekommen? Der Gang hat eine Art Geschwür, eine Auswulstung, etwa in der Mitte, die sich Aufenthaltsraum schimpft. Dort befindet sich ein Tisch, an dem tagsüber Karten gespielt werden. Ein paar Meter daneben ist eine Couch vor dem Fernseher, auf der jemand sitzt.
Ein stämmiger, muskelbepackter, schwarzer Mann. Ich habe ihn erst zwei oder drei Mal gesehen, als er Nachts kontrolliert hat, ob alle schlafen… Samuel heißt er… oder so. Ich starre in Richtung des Ausgangs. Mit einer Geste gibt sie mir zu verstehen, dass ich mich beeilen soll.

Jaja, ich mach‘ ja schon… Ich quetsche mich durch einen kleinen Türspalt und schließe behutsam die Tür; viel lauter als gewollt. Einen Moment verharre ich bewegungslos und warte darauf, dass sich irgendetwas tut. Es bleibt still und dunkel. Nur die Geräusche des recht leise gestellten Fernsehers sind zu hören und das Flackern des Bildschirms erhellt den Aufenthaltsraum, der sich geschätzt 15 Meter weit entfernt befindet. Langsam setze ich mich in Bewegung… Mit dem Blick auf den Ausgang gerichtet, gehe ich voran. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich da. Dann bin ich endlich frei…

Ich sehe, wie Samuel anscheinend schläft. Ok, eindeutig schläft er, sonst würde er nicht so nervtötend schnarchen. Mann, ich wusste gar nicht, dass das so einfach wird… Ich widme meinen Blick wieder der Tür, die sich langsam schließt. Warum ist die Tür offen? Ist die nicht normalerweise abgeschlossen? Moment, wo ist das Mädchen hin?
Ach, kann mir doch egal sein… Ich versichere mich, dass mich keiner bemerken wird und schleiche mich lautlos an ihm vorbei.

Dort angekommen hole ich noch einmal tief Luft. Ist das richtig so? Und wo soll ich dann eigentlich hin? Egal. Ich finde schon was. Nach Hause kann ich jedenfalls nicht. Ich öffne langsam die Tür, so dass die restlichen Nachtbetreuer mich nicht hören können und setze einen Fuß nach draußen. Gleich ist es soweit. Gleich bin ich draußen. Mein Puls rast wie wild vor Aufregung, als ich den letzten Schritt wage und die Tür wieder leise schließe. Nur noch durchs Treppenhaus, dann weg von hier.

Dieser Eintrag ist Teil 8 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Ich gucke noch einmal nach, ob mich jemand sehen könnte und renne sofort die Treppe runter. Hoffentlich hört mich keiner. Unten angekommen sehe ich den Haupteingang. Dieser quietschgelbe Haupteingang mit den Plastikblumen… Widerlich. Ich bleibe stehen und mustere den Raum. Er ist gelb, orange und grün eingerichtet. Schlimmer geht’s nicht.
Ich bin echt froh, wenn ich hier weg bin. Das ist doch alles zum Kotzen. Ich schreite weiter auf den Haupteingang zu und öffne die Tür, während ich sofort an den dunklen Himmel gebunden bin und den Mond, umgeben von Sternen, beobachte. Meine Lunge füllt sich mit frischer Luft und ich muss schon fast zufrieden lächeln.

Nein. Nein, das kann so nicht richtig sein. Was ist mit meinen Sachen? Und wenn sie mich finden, was dann? Bestimmt werde ich dann noch länger dort festgehalten und komme vielleicht sogar auf die geschlossene Station. Will ich das wirklich? Ich drehe mich wieder zur Tür und lege meine Hand an die Türklinke. Im nächsten Moment fühle ich einen heftigen Schlag auf meinem Hinterkopf und falle zu Boden…

Ein entsetzlicher Schrei lässt mich zusammenzucken und ich öffne meine Augen. Es ist dunkel. So dunkel, dass ich nichts erkennen kann. Mein Schädel tut höllisch weh und fühlt sich so an, als würde er in Brand stehen. Ich versuche, mir an den Kopf zu fassen, doch es gelingt mir nicht. Nachdem ich realisiere, dass ich irgendwo drangekettet bin, rüttele ich hektisch an den Ketten. Ich sitze noch nicht einmal auf einen Stuhl oder so, ich stehe. Noch nicht einmal hinsetzen kann ich mich, so stark werde ich nach oben gezogen.

Mir wird kalt. Warum spüre ich meine Klamotten nicht mehr an mir? Bin ich etwa nackt? Und wo zur Hölle bin ich?! Plötzlich schaltet jemand das Licht an, welches mich kurzzeitig erblinden lässt. Als ich wieder sehen kann, starre ich verwirrt mit zugekniffenen Augen nach vorne. Dort steht wieder das Mädchen mit den blonden Haaren. „Verdammte Scheiße. Sag mal, was willst du eigentlich von mir und warum tust du das?!“, brülle ich sie an. Ich spüre ein Brennen auf meiner Wange. Sie hat mich geschlagen – mit einer Gerte? „Nicht in so einem Ton, du Zicke. Sonst gibt’s gleich noch eine“, ermahnt sie mich.

„Um auf deine Frage zu antworten… Du warst ungezogen. Und ungezogene Mädchen müssen bestraft werden.“ Ungezogen? Was habe ich denn getan, dass die mich hier nackt und angekettet ‚rumstehen lässt und mich mit einer Gerte verkloppt? Sie geht langsam vor mir hin und her und schlägt mit der Gerte in ihre Hand. „Du willst sicherlich wissen, warum du nackt bist und hier so erbärmlich hängen darfst…“, fängt sie an zu erzählen. Ach, ich DARF also? „Nun, das ist ganz einfach. Erstens, du kannst dich nicht wehren und wild rebellieren.“ Sie bleibt vor mir stehen und grinst mir gierig ins Gesicht. „Und zweitens… Wie könnte ich deinem wunderschönen und vernarbten Körper bloß widerstehen?“ Die will mich doch verarschen. Bitte sag mir einer, dass diese Show hier ein Traum ist.

Sie holt erneut aus und die Gerte trifft mit einem lauten Klatschen auf meinem Bein auf. Ich zucke zusammen und keuche. Mein Herz fängt an weh zu tun, als hätte sie nicht auf mein Bein geschlagen sondern mein Herz durchbohrt. Gekrümmt vor Schmerz verfolge ich sie mit meinen Augen. Sie geht wieder vor mir hin und her. „Wer bist du?“, frage ich. „Wer ich bin?“ Sie sieht aus, als hätte sie schon lange auf die Frage gewartet und grinst wieder. „Vielleicht bin ich ja eine Ausgeburt deiner Fantasie? Vielleicht bin ich eine längst von dir vergessene Person?“ Sie kommt mir näher und hält ihren Kopf neben meinen. Ich spüre dieses begierige Grinsen und ihren kalten Atem an meiner Wange. Warum genieße ich bloß ihre Gegenwart?

„Vielleicht bin ich auch einfach nur du“, haucht sie in mein Ohr. „Ich? Was soll das…“ Sie schaut ernst auf den Boden direkt vor mir. Meine Stimme verstummt. Ich senke meinen Kopf und folge ihrem Blick. Vor meinen Füßen liegt ein Päckchen mit einer roten Schleife und einem Namen drauf Als Absender steht auf einem Schildchen: „In Liebe, Florian“.

Aus weiter Ferne höre ich dumpf ein paar Stimmen… „Ich weiß auch nicht, wie sie durch die Tür gekommen ist. Ich dachte, Samuel hätte alles unter Kontrolle. Aber anscheinend war die Türverriegelung defekt.“ „Mag sein. Aber es muss doch auffallen, wenn eine Patientin plötzlich verschwindet!“ Die Stimmen verstummen. Ich fasse mir an meinen schmerzenden Schädel. Mann, was ist bloß wieder passiert? Wäre ich einfach in meinem Zimmer geblieben, würde mir nicht alles weh tun. Oder war das bloß ein Traum? Keine Ahnung. Doch ich spüre noch immer den Schmerz auf meiner Wange und auf meinem Bein, mich das blonde Mädchen mit der Gerte geschlagen hat.

Ich öffne meine Augen. Der Raum ist mir fremd. Er ist so weiß… Es vermittelt mir einen Hauch von Kälte. Wo bin ich? Was ist denn überhaupt passiert? Ich versuche mich aufzusetzen, doch mein Versuch scheitert. Mir tut alles weh. So höllisch weh. Ich mustere noch einmal den Raum. Das muss das Krankenzimmer der Station sein. Ich lege mich auf die Seite. Liegen fühlt sich gerade so gut an… Aber mir ist so kalt. Meine Augen werden nach kurzer Zeit schwer und schon schlafe ich ein.

„Lilly, du Vollidiot!“, höre ich jemanden rumbrüllen. Ich kenne diese unglaublich nervige Stimme doch. Das ist bestimmt diese Ute. Ist die behindert? Merkt die nicht, wie scheiße es mir gerade geht und ich so was gerade überhaupt nicht gebrauchen kann? Rasch schlagen meine Augen auf und ich gucke sie wütend an. „Mann, Ute. Was stimmt mit dir nicht? Warum musst du mich so aus den Schlaf brüllen?!“, schreie ich sie an. Die Schmerzen kommen sofort zurück und ich krümme mich. „Warum ich dich aus den Schlaf brülle?!“, schreit sie zurück, „Du Idiotin wolltest dich umbringen! Deshalb brülle ich dich an!“

Die denken alle ernsthaft, ich wollte mich umbringen? Sind die wirklich alle so dumm, wie ich denke? „Ich? Mich umbringen? Bist du blöd?“ „Erzähl das dem Weihnachtsmann! Die Überwachungskamera sagt da was anderes.“
„Wie jetzt?“, frage ich verdutzt, „Ich schwöre bei meinem verdammten Leben, mich hat man überwältigt und entführt und da war dann dieses Päckchen…“ Ich erzähle zu viel. Ich sollte auf jeden Fall meine Fresse halten. „Was für ein Päckchen? Du standest da einfach und hast dir mit einer Scherze am Arm rumgeschnitzt! Kein Päckchen, keine andere Person. Nur du und die Schere. Und wie auch immer du an den Nachtwachen vorbei und DURCH die geschlossene Tür gekommen bist.“

Ich sehe nachdenklich auf meinen verbundenen Arm. Dann schaue ich zu ihr auf. „Und wie auch immer DU an das Band der Überwachungskamera gekommen bist.“ Sie seufzt und setzt sich neben mich. „Ich hatte Angst um dich, Lilly… Bitte mach das nie wieder.“ Ihre Hand streicht durch meine Haare und ihr Blick trifft den meinen. Ich sehe die Sorgen in ihren Augen. Sie macht sich um mich Sorgen? Um MICH? Ich bin es nicht wert, dass jemand davor Angst hat, ob ich jetzt sterbe oder nicht. Ich bin einfach da, aber ebenso wenig nicht. Niemand braucht mich, ich brauche niemanden. So ist es schon lange, so wird es immer sein. Nie anders.

Ich muss wohl wieder eingeschlafen sein, denn als ich aufwache ist Ute weg. Neben meinem Bett steht Mechthild. „Was ist denn ?“, frage ich sie – wohl eine Spur zu unfreundlich. „Hier, deine Tabletten.“, sagt sie trocken und drückt mir Tablette und ein Glas Wasser in die Hand. Scheiß Klapse, scheiß Tabletten, scheiß Leben. „Wird das heute noch was?“
Ich nehme die Tablette in den Mund, verstecke sie unter meiner Zunge und trinke einen Schluck Wasser. Zufrieden verlässt sie wieder den Raum. Ohne darüber nach zu denken reiße ich den Verband von meinem Arm. Langsam streiche ich über die Naht. Es tut gar nicht weh. Was ist denn nur passiert? Ich kann mich nicht erinnern. Bin ich denn wirklich bekloppt ? Eigentlich will ich doch leben oder nicht? Es wird warm an meinen Fingern, ich spüre ein leichtes Brennen – ich blute. Warum blute ich?!

Dieser Eintrag ist Teil 9 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Panisch fange ich an zu rufen. „Hallo? Ist da wer?“ Eine Betreuerin, die ich noch nie zuvor gesehen habe betritt den Raum. „Was ist los?“, fragt sie und sieht mich ernst an. „Ich glaube, ich blute“, meine Stimme piepst und mir wird augenblicklich schlecht. „Du hast dir die Naht aufgerissen, was hast du nur getan?“, sie wirkt hektisch und ruft mit ihrem Handy den Arzt. Mit einer Hand versucht sie die Blutung zu stillen, mit der anderen Hand hält sie ihr Telefon.
Ich versinke im Nebel und wie durch Watte höre ich aufgeregte Stimmen. Soviel Aufregung wegen dem bisschen Blut… dann werde ich in die Dunkelheit gezogen.

Plötzlich sehe ich mich selbst von oben auf einer Bahre in einem Raum liegen. Sieht aus wie ein Operationssaal.
Ich höre dieses ekelhafte Piepen von dem Gerät, das den Herzschlag misst.Wie hieß das noch mal? – Pulsoximeter?
Das Geräusch wirkt unregelmäßig. Alle sind total aufgebracht und hektisch. „Wenn Sie noch mehr Blut verliert, verlieren wir sie!“ Eine Schwester läuft hektisch weg. Weniger als eine halbe Minute später wird mir Blut von jemand anderem in die Adern gepumpt. Ekelhaft. Meine Augen sind halb offen und nach oben gerollt. Der Arzt hantiert mit verschiedenen Werkzeugen, die ich nicht benennen kann an meinem Arm rum und versucht, ihn zusammen zu flicken. Zwischendurch wird das viele Blut, das aus der Wunde herausläuft abgetupft.

Neben mir steht außer dem Arzt und zwei Frauen noch jemand anderes. Das blonde Mädchen. Die anderen scheinen sie nicht zu bemerken. Sie scheinen nicht zu wissen, dass sie existiert. Sie laufen durch sie hindurch. Bin ich verrückt?…
Regungslos liege ich auf der Bahre, während sie mir über die Wange streichelt. Dem Arzt wird Schweiß von der Stirn getupft. Es scheint eine schwierige Operation zu sein. Von der kleinen Schere? So schlimm kann es doch gar nicht sein!
Nach einer Ewigkeit senkt der Mann erschöpft den Kopf. Es wird totenstill. Alle starren mich – oder zumindest meinen Körper an. Bin ich tot? Ist alles in Ordnung mit meinem Körper? Warum sagt niemand was? Ich fühle mich unglaublich leicht und so gut wie noch nie…

Kann das denn alles wahr sein? Bin ich total durchgeknallt? Das blonde Mädchen, die Schere, die OP? Ist das alles Realität oder ist das meinem krankem Hirn entsprungen? So eine große Scheiße! Ich weiß nichts mehr. Kann es sein, dass ich den Irrsinn von meinem Vater geerbt habe? Kann man Irre-sein erben? Ich wünschte, Johannes wäre hier, ihn könnte ich fragen. Er ist ja schließlich vom Fach, er kennt sich doch mit Bekloppten aus. Mein Kopf dröhnt vom vielem Nachdenken oder denke ich gar nicht nach? Bin ich denn überhaupt noch hier? Ich versuche mich zu konzentrieren. Nein, ich klebe nicht mehr an der Decke. Wieder zurück in meinem Körper. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Auch das blonde Mädchen ist nicht mehr hier, ich höre auch niemanden mehr reden. Alles ist wie in Watte gehüllt, so dumpf und unwirklich. Ich fühle mich einsam und mir ist kalt, furchtbar kalt.

Ein zaghaftes Klopfen weckt mich aus meinem Dämmerzustand und ich versuche meine Augen zu öffnen. Ich warte und da ist es wieder. Dieses leise Klopfen. Mein Mund ist staubtrocken und ich kriege kein Wort heraus. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Ich starre wie gebannt auf die Türklinke. Nichts passiert. Totenstille. Langsam versuche ich aus dem Bett zu steigen und mir wird sofort schwarz vor den Augen. Schnell lege ich mich wieder hin und konzentriere mich auf meine Atmung. Ein, aus, ein, aus, jetzt müsste es gehen, denke ich und schlage die Decke zur Seite. Wieder klopft es, aber diesmal lauter und stärker. Ich bin fast an der Tür, als diese mit einem Ruck aufgestoßen wird. Fast bleibt mir das Herz stehen, mein Puls rast und Tränen der Erleichterung schießen mir in die Augen.
„Du?“, flüstere ich. „Hallo Lilly. Wie geht es dir?“ und ich bin plötzlich glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Ich kann ihn nur anstarren, unfähig ein Wort zu sagen. Er lächelt mich an und seine blauen Augen leuchten wie der Himmel und das Meer. Ach du scheiße, was denke ich nur für einen Müll. Ich spüre die heiße Röte in meinem Gesicht. „Mir ist schlecht“, sage ich leise und gehe langsam zum Bett zurück. Erst jetzt sehe ich die Blumen, die auf dem weißen Tisch stehen. „Gut siehst du aus, ein bisschen blass, aber das bist du ja immer“, er grinst und ich sehe seine makellosen weißen Zähne. Ganz plötzlich finde ich mich langweilig. Wie ich so da liege und ihn anstarre. Wie peinlich ist das denn, denke ich? Niemals habe ich bei ihm eine Chance. Niemals! „Geh einfach wieder“, flüstere ich und drehe mich von ihm weg. Ich höre wie er langsam aufsteht und dann… Die Tür fällt laut ins Schloss. Es ist ganz still und ich drehe mich zur Tür. Er ist weg, einfach gegangen.

Tränen steigen heiß in meine Augen, ich kann es nicht verhindern. Da ist er wieder, dieser Schmerz, diese Angst und diese Traurigkeit. Mein Vater hat früher auch oft geweint. Er dachte zuerst es sieht niemand. Aber irgendwann hat er nicht mehr versucht es zu verbergen. Ab dem Zeitpunkt habe ich gewusst, das mit ihm irgendwas nicht in Ordnung ist. Als ich meine Mutter fragte, warum Vater immer so traurig ist, hat nur mit dem Kopf geschüttelt und ist weg gegangen. So viele Fragen hätte ich gehabt, aber ich habe mich nicht mehr getraut, sie darauf anzusprechen. Ich wünschte Johannes wäre gerade hier. Er könnte mir bestimmt helfen.

Vielleicht mag er mich jetzt auch nicht mehr… Aber er ist doch mein Arzt, er muss mir doch helfen können, oder kann mir niemand mehr helfen? Bin ich wie mein Vater? Ich fühle den Verband an meinem Arm. Mit einem Ruck reiße ich ihn ab. Ich will es sehen. Sehen was ich getan haben soll. Was ich sehe kann mein Gehirn nicht glauben. Ich muss den Würgereiz unterdrücken und wende meinen Blick ab. War ich das wirklich? Und wenn ja, warum kann ich mich nicht daran erinnern? Unsanft werde ich aus den Gedanken gerissen, als es schon wieder an der Tür klopft. Schnell ziehe ich die Decke über meinen Kopf.

Die Tür geht auf. „Lilly?… Lilly, was machst du da?“ Es ist Johannes Stimme. Ich setze mich auf und sehe ihn an. Er sitzt vor dem Bett auf einem Stuhl. „Wie geht’s dir, Lilly?“, fragt Johannes und sieht mich besorgt an. „Naja… es geht.“ „Willst du mir erzählen was passiert ist?“ „Ich… ich weiß es nicht.“, bringe ich hervor. Johannes runzelt die Stirn. Ich werde nervös. „Ich kann mich an nichts erinnern“, ergänze ich. Er schüttelt langsam den Kopf. „Wenn du so etwas noch einmal machst, müssen wir dich auf die geschlossene Station bringen, verstehst du? Willst du wirklich weg von den Freunden, die du hier gemacht hast?“ Freunde… Pah! Wer braucht so was schon? Niemand hier ist wirklich mein Freund. Die, die mich nett behandeln haben doch bloß Angst! „Lilly?“, er sieht mich eindringlich an, „Hörst du mir zu?“ „Äh… ja. Klar. So was kommt nicht wieder vor.“ „Wenn es dir nicht gut geht oder irgendetwas ist, sprich bitte sofort jemanden an. Mach keine Alleingänge.“ „Jaja…“ „Versprich es mir.“ Sein Blick wird ernst. Ich schlucke. „Ich… verspreche es.“ Das kommt mir echt schwer über die Lippen.

Sein Gesichtsausdruck wird freundlicher. Innerlich fällt eine Last von mir ab. „Na gut, Lilly. Für heute bist du von deinen Pflichten befreit. Ab morgen geht es so weiter wie immer.“ „Okay…“ Uff… ich habe Besendienst; das hätte ich beinahe vergessen. Da habe ich voll keinen Bock drauf. Und eigentlich muss ich wieder zur „Schule“. Diese scheiß Schule hier in der Klapse. Mit den anderen Verrückten von der geschlossenen Station in einem Raum. Da geht alles drunter und drüber. Er steht auf und geht zur Tür. „Wir sehen uns morgen zu unserem Gespräch, Lilly. Mach bitte keinen Unsinn.“
„Okay. Bis morgen“, sage ich und versuche zu lächeln. „Bis morgen, Lilly.“ Ich lasse meine Beine vom Bett baumeln. Das ist doch alles scheiße. Warum kann ich nicht einfach normal sein? Ich mache eine Faust. So fest, dass es weh tut. Überzeugt davon, dass ich das Richtige tun werde, stehe ich auf, gehe zur Tür und drücke die Klinke herunter.

Langsam öffne ich die Tür und stehe auf dem Flur. Warum ist denn alles so still? Ich höre ein leises Flüstern und werde neugierig. Ja – es kommt eindeutig aus der Küche. Leise schleiche ich über den Flur, weiter zur Küche um besser hören zu können. Es ist Johannes und Mechthild, meine Betreuerin, aber warum wird hier geflüstert? Ich versuche noch etwas näher ran zu schleichen und jetzt höre ich ganz genau, dass sie über mich reden. Wusste ich es doch! Diese falsche Schlange! Diese hässliche alte Kuh hat nichts besseres zu tun als über mich her zu ziehen. Ich versuche noch ein Stück näher heran zu kommen um besser hören zu können. „… in drei Tagen wird sie schon 17. Ich weiß nicht ob wir mit der Medikation weiter machen können, vielleicht sollten wir sie schon als Erwachsene einstufen. Dann hätten wir ganz andere Möglichkeiten“, sagt Johannes und ich sehe Mechthild mit dem Kopf nicken.

So eine große Scheiße, denke ich und versuche meine Gedanken zu sortieren. Was bedeutet das nur? Andere Pillen? Stärkere? Oder stecken die mich womöglich in die Geschlossene? Vielleicht sogar zu den Erwachsenen?! Tränen laufen mir übers Gesicht und ich renne zurück in mein Zimmer. Was jetzt, was soll ich tun? Mein Kopf tut so weh, das ich anfange an meinen Haaren zu reißen. Für kurze Zeit hilft das und ich reiße immer fester. Plötzlich klopft es an der Tür und ich schaue auf meine Hand. Ich halte ein dickes Bündel Haare in meiner Faust, unfähig sie zu öffnen. „Lilly, schläfst du schon?“ fragt Mechthild. „Hau ab, lass mich bloß in Ruhe“, schreie ich die Tür an, aber sie kommt einfach herein.

Sie schaut auf meine Hand, grinst mich an und geht wieder raus. Ich denke noch, jetzt holt sie Johannes, aber nichts passiert. Was ist hier eigentlich los? Das war doch Mechthild, sie arbeitet hier, oder nicht? Ich stehe auf sehe in den Spiegel, ein kleines Rinnsal Blut läuft an meiner Nase entlang. Das ist mein Spiegelbild, das bin ich! Aber wer zum Teufel ist sie?

Dieser Eintrag ist Teil 10 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich überhaupt bin. Was macht mich aus? Dass ich gestört bin? Meine Diagnosen? Mich überkommt das Gefühl, dass ich mit Johannes reden sollte. Aber ich will nicht. Ich will nicht auf die Erwachsenenstation. Ich will nicht in die geschlossene Anstalt. Langsam spüre ich, wie mich ein tiefer Hass überkommt. Hass auf mich selbst. Hass auf alle, die mich für gestört halten. Hass auf meine Mutter, dafür, dass sie mich in die Klapse gesteckt hat. Hass auf meinen Vater, weil er mich allein gelassen hat.Im Spiegel sehe ich dieses Mädchen. Das bin ich. Meine Augen rot und leicht geschwollen vom Weinen. Ich balle meine Faust. Ich bin nicht gestört! Ihr anderen seid alle gestört!

„SCHEIßVEREIN!“ brülle ich so laut wie ich kann und schlage gegen die Wand. Zuerst überkommt mich ein stechender Schmerz in der Hand, der langsam in einen dumpfen Schmerz übergeht. Dumpf. Warum ist alles so dumpf? Alles erscheint so fern. Meine Gedanken, meine Gefühle, mein Ich. Als hätten fremde Kräfte die Oberhand über meinen Kopf und meinen Körper erlangt. Als sei mein wahres Ich irgendwo ganz tief in mir drin eingesperrt. Mein Blick wandert zu meiner noch immer geballten Faust. Ein paar einsame Tropfen Blut fallen zu Boden. Ich gehe vom Bad wieder ins Zimmer und laufe auf und ab. Dann erinnere ich mich an das, was mir in der Therapie beigebracht wurde. Tief atme ich durch. Ich versuche, all meinen Stress und meine Wut einfach herauszuatmen. Ich schließe die Augen und versuche mich zu konzentrieren. Ich lege all meine negativen Gefühle in meine Lunge und atme sie einfach aus… Frische Luft und positive Energie ein. Verbrauchte Luft und negative Energie aus. Ein… und aus.

„WARUM FUNKTIONIERT DIE SCHEIßE NICHT?!“ Ich nehme den Stuhl und werfe ihn mit aller Gewalt so fest wie ich kann gegen die Wand. Holzstücke fliegen durch das ganze Zimmer. Ich nehme ein abgebrochenes Stuhlbein und schlage immer weiter auf die Sitzfläche ein, an der nur noch ein abgebrochenes Stuhlbein und die halbe Lehne hängt.
Nach kurzer Zeit sacke ich erschöpft auf den Boden. Heiß und brennend laufen Tränen über mein Gesicht. Plötzlich werde ich auf die Beine gehoben und umarmt. Es ist Kai. Kai… er hat mich noch immer nicht aufgegeben. Sicher denkt er jetzt, ich sei komplett gestört. Ich presse ihn fest an mich und schluchze. Fest kralle ich mich in sein Shirt und versuche mein Gesicht in seinem Hals und seiner Schulter zu vergraben. Noch nie konnte ich mich so wenig beherrschen, zu weinen.

Er sagt nichts. Er umarmt mich einfach nur und streichelt meinen Rücken. Selten habe ich ein so schönes Gefühl gehabt. Als sei ich in einer anderen Welt. In einer Welt, in der alles gut ist. Eine Welt, in der Kai mein Freund ist. Nicht nur ein Bekannter aus der Klapse, sondern mein fester Freund. Eine Welt, in der ich in der Schule klarkomme, mein Vater und meine Mutter glücklich zusammenleben. In der ich mich mit meinem Bruder und dem Rest meiner Familie verstehe. Ich will nicht mehr so sein… Aber wie bin ich denn überhaupt?

Ich frage mich, was früher meine Träume waren. Früher in meinem anderem Leben. Als ich noch ein kleines Kind war, zehn oder noch jünger. Da muss ich doch Träume gehabt haben, so wie jedes Kind. Ich versuche mich zu erinnern und irgendwie fühle ich mich plötzlich wieder so klein. An der Hand meines Vater durch den Wald laufen. Ein Eis essen, all die schönen Dinge, die man in Erinnerung behält, wenn man erwachsen wird. Leider bin ich noch nicht wirklich erwachsen, obwohl ich es oft glaube. Mein Alter war für mich noch nie wichtig. Nie habe ich mich über meinen Geburtstag gefreut. Ich wollte nie einen Geburtstagskuchen oder eine Party. Keine Geschenke, oder einem Clown.
Ich hasse Clowns.

Dieser große, rot geschminkte Mund, diese blöde rote Perücke, ich hasse Sie. Eigentlich will ich mich doch nicht an meine Kindheit erinnern, richtig schön war es nie. Und das, was ich noch genau weiß, macht mir nur Angst. Über mein Alter nach zu denken macht mir noch mehr Angst, denn so oft verschiebt sich die Realität. Meine eigene Realität. Oder ist es vielleicht die reale Realität? Sollte ich nicht in die Erwachsenen Abteilung? Nur ein paar Meter weiter?
Oder bin ich doch noch zu jung dafür? Ob ich Johannes wohl fragen kann, wie alt ich in seiner Realität bin? So eine Scheiße, ich denke schon wie eine Irre… Meine Ängste machen mir schwer zu schaffen und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.

Vielleicht kann Kai mir helfen mich wieder zurecht zu finden. Wieder mein Leben zu finden. Ein Leben ohne Tabletten, ein Leben was mir gehört, was ich verstehe. Und wo ich Ich sein darf. Ganz ohne Angst, ohne Blut und ohne Tränen. Oft denke ich nur an Kai. Ein schönes Gefühl und ich glaube mit ihm kann ich alles schaffen. Ein lautes Hämmern an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich reagiere nicht und klammere mich noch immer an Kai. Er lässt von mir ab und entfernt sich ein paar Schritte von mir. „Bleib bei mir!“, will ich am liebsten rufen, aber in dem Moment wird die Tür aufgerissen. Die Angst ist eben wieder hereinspaziert. Durch meine Tür, in mein Leben, in meine eigene Realität.

Wieder diese hässliche Fresse von dieser blöden Kuh. Sie schaut ernst drein und zieht eine Augenbraue hoch. „Was ist denn hier los?“ „Äh… nichts“, stammele ich. „Kai, geh bitte. Ich möchte mit Lilly allein reden.“ Kai sieht kurz zu mir rüber.
Ich schaue ihn traurig an. Er erwidert kurz den Blick, legt für einen kleinen Augenblick leicht den Kopf schief, setzt dann eine ernste Miene und geht mit leicht gesenktem Blick. Mechthild folgt ihm mit ihrem Blick. Als sich die Tür schließt, wendet sie sich mir ruckartig zu. „Lilly, ich möchte, dass du mir auf der Stelle erklärst, was hier los ist.“ Diese Frau… ich frage mich, wie sie die täglichen Mordanschläge überlebt, die ihre Mitmenschen wahrscheinlich auf sie verüben, wenn sie bei denen auch nur ansatzweise so ist wie bei mir.

„Ich äh… Ich kann nicht schlafen.“ „Und was hat das Chaos hier zu bedeuten? Es ist Nachtruhe. Andere schlafen schon.“ Man hört einen aggressiven Unterton in ihrer Stimme, den sie versucht zu unterdrücken. „Weiß nicht“, ich spüre, wie sich alles in mir sträubt, diese Unterhaltung fortzusetzen. Warum kann sie nicht einfach weggehen? „Es wäre besser für dich, wenn du jetzt schlafen gehst. Ich werde Johannes von diesem Vorfall berichten. Natürlich auch davon, dass Kai hier war, obwohl er hier drin nichts zu suchen hatte. Für ihn wird das entsprechend auch Folgen haben.“ „Aber…“
„Kein Aber. Gute Nacht, Lilly.“ Sie geht. Einfach so. Endlich wieder allein. In den ganzen Trümmern. Wieso ist so eine Frau meine Bezugsperson? Ich will nicht, dass das Folgen für Kai hat. Dann will er bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich verkrieche mich unter die Bettdecke und mir steigen wieder Tränen in die Augen.

Plötzlich werde ich aus dem Schlaf gerissen. Die Tür geht auf, kracht gegen die Wand und hinterlässt eine deutlich sichtbare Spur. Der elfenbeinweiße Putz bröckelt ein wenig ab. Das letzte Mal, als zwei Dinge so heftig kollidierten, hat dies wahrscheinlich für das Aussterben der Dinosaurier gesorgt. Sofort bekomme ich stechende Kopfschmerzen. „Hey Bitch, hast du vielleicht ’ne Kippe für mich?“, sagt eine mir unbekannte, weibliche Stimme. Ich drehe mich zur Wand. „Verpiss dich.“ Die Tür schließt sich. Ich merke, wie sich jemand neben mir aufs Bett setzt. „Bitte… nur eine.“ Sie klingt traurig. Bettelnd. Ich drehe mich leicht und schaue sie an. Sie ist klein. Geschätzt einen Kopf kleiner als ich und ich bin ja schon nicht die größte. Glatte, dunkelbraune, schulterlange Haare, blaue Augen. Schelmisch grinst sie mich an. „Wer bist du überhaupt?“ „Ich sag’s dir, wenn du mir eine Kippe gibst.“ „Geh mir nicht auf den Sack. Verpiss dich einfach.“ „Komm schon, Kleines. Sei kein Frosch.“ Die Tür öffnet sich erneut. Ute kommt rein.

Als ich sie sehe, werde ich augenblicklich richtig sauer. „WAS WOLLT IHR ALLE VON MIR?! LASST MICH DOCH MAL IN RUHE!“ Ute läuft augenblicklich rot an und verlässt wieder das Zimmer. Es fängt direkt an, mir leid zu tun, sie angebrüllt zu haben. Sie war immer nett zu mir. Bestraft werde ich direkt mit einem pochenden Schmerz in meinem Kopf. Die Kopfschmerzen werden schlimmer… Das Mädchen neben mir lächelt mich an. „Der hast du es aber gezeigt. Die nervt mich auch schon. Ich heiße Samantha. Sag einfach Sam zu mir.“ „Aha.“, sage ich trocken. „Du bist Lilly, oder?“ Erschrocken sehe ich sie an. „Woher weißt du das?!“ Sie lacht. „Die Leute reden.“ Innerlich setze ich wieder meine Maske auf. Meine das-juckt-mich-alles-nicht-Maske. Ich sehe ihr in die Augen. Sie starrt mich mit ihrem musternden Blick regelrecht an. Als könnte sie direkt in meine Seele schauen. „Also? Hast du jetzt ’ne Kippe für mich?“

Ich wende den Blick ab und emotionslos antworte ich: „Ich rauche nicht.“ „Jammerschade. Trinkst du wenigstens? Alkohol meine ich natürlich.“ „Ja… manchmal.“ „Cool. Lass uns heute Abend was zusammen machen. Bisschen labern oder so. Du hast doch Ausgang, oder? Draußen ist es chilliger.“ Ich werde ein wenig skeptisch und schaue sie wieder an. Sie grinst wieder. Ich schaue sie nur ernst an. Und langsam vergeht ihr das Grinsen. „Hallo? Samantha an Erde. Ich habe eine Frage gestellt. Over.“ „Ja klar, können wir machen.“ Eigentlich habe ich das nur gesagt, um sie los zu werden, aber sofort weiß ich, dass ich es bereuen werde, das gesagt zu haben.

„Cool. Wir sehen uns gleich beim Frühstück. Wir gehen zusammen in diese komische Klapsenschule hier oder?“ „Ja, da muss ich auch hin… Bis gleich.“ Sie streichelt mir sanft durch die Bettdecke über die Seite und steht dann auf.
Als sie durch die Tür verschwunden ist und die Tür schon fast zu ist, öffnet sie sich noch mal einen kleinen Spalt uns Samantha steckt ihren Kopf hindurch. „Wehe du vergisst unser Date heut‘ Abend!“ „Date?“, frage ich, aber sie ist schon weg. Aus dem Treffen komme ich sicher nicht mehr raus. Hoffentlich nervt die mich nicht total. Ich versuche mich seelisch vorzubereiten. Na gut… Nun muss ich aufstehen, meine Pflicht erfüllen, damit ich keine „Artigkeits“-Punkte abgezogen bekomme – sonst wird mir der Ausgang sicher wirklich entzogen, was ich nach meiner Aktion letzte Nacht sowieso schon befürchte – und dann Frühstücken gehen. Ich sollte mich bei Ute entschuldigen. Ich reibe mir die Augen und schlage dann langsam die Bettdecke zurück.