Unsanft werde ich gegen die Schulter gestoßen. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?!“ Ich erschrecke mich fast zu Tode. Meine Mutter sieht mich musternd an. „Jaja, ich komme doch schon zum Essen…“ antworte ich fast automatisch.
Sie geht. Das Gefühl ist weg… – Die Freiheit hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin wieder gebunden an meinen Körper.
Er ist kalt. Er fühlt sich falsch an. Ich sehe die Schere an. – Sie schreit fast nach mir. Ich strecke meine Hand aus, verharre einen Moment, lasse meine Hand sinken und folge meiner Mutter. Eine halbe Stunde lang stochere ich abwesend in meinem Essen rum… Ich habe keinen Hunger. Außerdem bin ich eh schon fett genug. Morgen kommen meine ganzen Verwandten… Ich hasse sie alle. Hoffentlich komme ich bald hier weg. Ganz weit weg. Wo mich keiner findet. Wo mich alle in Ruhe lassen. Ich wünschte, er wäre hier. Mein Vater. Er würde mich verstehen. „Er wird nicht zurückkommen.“, höre ich die Worte meiner Mutter in meinem Kopf. „Nie wieder.“… Tränen schießen mir in die Augen. Ich renne ins Bad, schließe die Tür ab und kauere mich auf den Boden.
Als ich aufblicke, sehe ich wie Blut an der Wand herunterfließt. Ein einzelnes Wort steht dort: „Lilly“. Hektisch sehe ich mich um. Als ich wieder an die Wand blicke, ist es verschwunden. Immer diese verdammten Halluzinationen. Ich schleppe mich in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und versuche ein Buch zu lesen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster. Die Äste des Baums wiegen sich im Wind. Der Baum, an dem sich mein Vater erhängt hat. Ich lege mich ins Bett und mir kommen die Tränen…
Ich wache auf. Mein Kopf dröhnt und mein Herz rast. Ich höre von unten lautes Gelächter und Musik. Was ist heute nochmal für ein Tag? Ach ja, es ist Weihnachten… Meine „wundervollen“ Verwandten sind da und es geht wieder dieses scheinheilige Familiendasein los. Wie toll. „Lilly, bist du schon wach?“, ruft meine Mutter hoch, „Komm doch runter. Es sind schon alle da.“ Schleppend stehe ich auf und ziehe meine Schlabberklamotten an. Auf Kleidchen und Schleifchen habe ich keinen Bock. Darauf habe ich sowieso nie Bock. Ich stehe auf übergroße Männerpullis und weite Hosen. Ich mache mich auf den Weg ins Bad. Ich fühle mich so dreckig.
Bestimmt werde ich krank… – Und wenn schon. Ich wasche mein Gesicht und bürste danach meine verknoteten Haare. Ich mag sie nicht. Sie wären schöner, wenn sie dunkler wären. Am liebsten hätte ich auch größere Brüste… Und wäre gerne dünner. Ein flacher Bauch, große Brüste und lange, schwarze Haare. Das wäre so perfekt. Dann würde ich mich wenigstens trauen, engere Kleidung zu tragen. Aber scheiß drauf, man kann ja nicht alles kriegen, was man will. Nachdem ich mir meine Zähne geputzt habe und meine Hausschuhe angezogen habe, gehe ich verschlafen die Treppe herunter. Unten angekommen, merke ich, wie ich angestarrt werde. Da sind sie ja alle: Meine Tante mit der Hakennase, mein Onkel mit dem fetten Bierbauch, meine klapprigen Großeltern, meine ach so perfekte Musterschülerin von Cousine, mein Cousin Edward und mein anderer Cousin, der eh aussieht wie der letzte Vollidiot. Alle gaffen sie. Warum glotzen die mich so an? Die haben sicherlich andere Probleme, als sich Gedanken über mich zu machen.
„Du bist aber groß geworden“, darf ich mir von meiner Großmutter anhören. Ist ja nicht so, als hätten wir uns vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Gewachsen bin ich auch nicht… Alles reden sie auf mich ein mit ihrem „Wie geht es dir?“ und „Schön, dass du da bist“, als würde ich nicht merken, dass dieses nette Verhalten bloß schlecht gespielt ist und mich keineswegs beeindruckt. Ich fühle mich unwohl. So unwohl, wie fast noch nie. Und überfordert. Langsam wird es draußen dunkel… „Oha, bist du fett geworden“, wirft mir meine Cousine an den Kopf. Dieses elende Miststück. Ich habe sie schon immer gehasst. Angenervt von ihrer Dreistigkeit, mich so scheiße zu behandeln, überkommt mich das Bedürfnis, ihr weh zu tun. So richtig weh zu tun, dass sie auf dem Boden liegt und heult. Sie soll bluten. Ich aus und haue in ihr hässliches Barbiegesicht – direkt auf ihre Nase. Sie hält sich ihr Gesicht und fängt an zu weinen. Es blutet nicht. Schade. „Spinnst du?!“, brüllt mich meine Tante an.
Es beeindruckt mich wenig, weil diese Frau nicht ernstnehmen kann. Gelassen schlendere ich zur Tür, schnappe mir meine Jacke und gehe aus dem Haus. Ich will rennen. Ganz schnell, bis ich nicht mehr richtig atmen kann. Also renne ich, so schnell ich kann. In den Wald, denn das ist der einzige Ort, wo ich mich halbwegs wohlfühle. Dort ist es ruhig. Dort ist niemand, der mich verletzen kann. Als ich ankomme, kann ich kaum atmen und breche fast zusammen.
Ich hasse sie, jeden einzelnen. Ich mochte sie noch nie. Ich will doch nur, dass mein Vater wieder da ist. Dann wäre alles wieder ok, dann wäre alles wieder gut. Ich fange schon wieder an zu heulen.
Immer noch bekomme ich kaum Luft. Es ist so kalt, dass ich meinen Atem sehen kann, aber Schnee liegt nicht. Meine Füße fangen an zu brennen und ich schaue hinab. Ich hätte mir Schuhe anziehen sollen… Aber irgendwie ist es mir dann doch egal. Ich richte meinen Kopf nach vorne und gehe den Weg entlang. In der Ferne ist eine Laterne. Im Licht der Laterne steht jemand. Irgendwie bekomme ich Angst und bleibe stehen. Ich versuche wegzurennen. Aber ich kann meinen Körper nicht beherrschen und bin wie angewurzelt. Ich beobachte die Silhouette der Person. Es scheint, als würde sie mich anstarren. Mir ist so kalt…
Aus weiter Ferne höre ich meinen Namen. Ich versuche mich zu konzentrieren. – Ja, jemand ruft nach mir. Ich kann meine Augen nicht öffnen und einige Sekunden lang glaube ich, ich sei blind. „Lilly, du musst aufstehen“, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist die Stimme meiner Mutter. Mit aller Kraft öffne ich meine Augen und was ich sehe verwirrt mich.
Ich sehe einen kleinen Eisbären, der mir eine rote Rose entgegenstreckt. Ach du Scheiße, denke ich, jetzt bin ich wirklich total abgedreht. „Lilly – wir müssen gleich los“, ruft meine Mutter noch mal. Sie kommt in mein Zimmer, in der Hand hält sie ein Glas Saft und meine Pillen. Seitdem ich hier bin, achtet sie genau darauf, das ich die verdammten Dinger schlucke. Wie im Knast. Zeig mir deine Hände, mach den Mund auf, sind auch alle weg und so weiter.
Erst jetzt wird mir bewusst, wo ich eigentlich bin. Wie ein kleines Kind liege ich im Bett. Mit einem Eisbärschlafanzug und einem Kuschelkissen aus rosa Plüsch neben mir. „Komm schon, du musst die Tabletten nehmen, wir wollen doch nur dein Bestes“, sagt meine Mutter mit einer Stimme, die mir Angst macht. Sie spricht mit mir, wie mit einer Verrückten. So wie sie damals mit meinem Vater gesprochen hat. Ich schlucke die Tabletten runter. Mir bleibt eh nichts anderes übrig. „Dann zieh dich mal an, in zwei Stunden müssen wir los“, sagt sie und geht wieder nach unten.
Langsam stehe ich auf und sehe in den großen Spiegel. Ich sehe aus wie früher. Wie früher, als alles noch gut war, Als ich noch ich war.
Die welligen Haare stehen in alle Richtungen und meine grünen Augen hab‘ ich wohl von meinem Vater geerbt. Nur die vielen Narben waren früher noch nicht da. Plötzlich spüre ich, wie die Traurigkeit in mir hochkriecht. Wie eine riesige Schlange windet sie sich um meinen Hals und versucht mich zu erwürgen. Die Medikamente machen mich schwach und ängstlich, denke ich und in dem Moment beschließe ich, nie wieder nehme ich diese Pillen. Egal, was passiert. Mit diesem Entschluss lächle ich mein Spiegelbild an und freue mich sogar ein wenig.
Ich betrachte mich genau, aber es kommt mir vor, als sei die Person im Spiegel nicht ich. Meine Augen fühlen sich komisch an und ich fange an zu reiben. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was wirklich passiert und was nicht… Ich versuche mich zu erinnern: Was ist an Weihnachten passiert? Nichts. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. War überhaupt schon Heiligabend? Fragend sehe ich mich um, um irgendetwas zu finden, was mir hilft, mich zu erinnern oder irgendwelche Zeichen gibt. Wie erwartet: Ich finde nichts. Alles ist genau wie immer. Wie jeder verdammte Tag, den ich hier verbracht habe. Irgendwie bin ich traurig, aber ich fühle, wie etwas dieses Gefühl unterdrückt. Ich öffne meine Zimmertür. Jetzt sehe ich es: im Flur vor meiner Zimmertür sind ein paar Geschenke gestapelt:
zwei kleine und ein etwas größeres. Eingepackt in weihnachtliches Geschenkpapier. Mit Tannenbäumen, Rentieren und so was. Meistens bekomme ich eh nur Mist geschenkt. In Gedanken versunken versuche ich wieder, mich zu erinnern…
„Oma? Warum ist Papa eigentlich so geworden, wie er war?“ „Weißt du, Lilly… vor deiner Mama war er schon mal verheiratet. Und er hatte mit der anderen Frau bereits einen Sohn. Er war fast 4 Jahre alt…“, erzählt sie langsam und ruhig. „War?“, frage ich mit großen Augen. „Was ist passiert?!“ „Seine damalige Frau und ihr gemeinsamer Sohn starben. Sie sind bei einem Motorbootunfall gestorben. Er hat sich dafür immer die Schuld gegeben.“
Ich sehe Tränen in ihren Augen. Es berührt mich nicht. Ich spüre Traurigkeit. Ich will schreien – ich will weinen. Aber es geht nicht. Ich kann sie nur anstarren. „Aber… wie ist das passiert?“, frage ich mit zitternder Stimme. „So, wie er mir das erzählt hat, passierte das im Urlaub. Das ist jetzt schon über 20 Jahre her… Er ist einfach zu schnell gefahren. Du weißt doch, wie Männer sind. Sein Sohn… Mathias hieß er… er fiel ins Wasser. Und die Mutter sprang natürlich sofort hinterher.“ „Moment mal… heißt das, ich hätte noch einen großen Bruder gehabt?!“ „Ja, das heißt es, mein Kind… – Sie sind beide ertrunken. Ein großes, vorbeifahrendes Schiff hat die beiden erfasst.“
Ich falle auf die Knie. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und Tränen rollen mir über die Wangen. Warum weine ich?… Die Tränen hören nicht auf zu fließen. Ich schaue auf. Vor mir sehe ich meine Geschenke unausgepackt liegen. „Lilly? Bist du fertig? Wir fahren gleich los.“, ruft meine Mutter von unten hoch. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, setze ein Lächeln auf und antworte, als sei nichts gewesen: „Ich komme sofort.“