Schwarz-Weiß (Teil 6)

Dieser Eintrag ist Teil 6 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Warum musste diese ganze Scheiße passieren? Warum musste ich bloß in dieser Klapse enden? Mich wieder beruhigend stehe ich angestrengt auf und wasche mein Gesicht. Ich halte einmal inne und gehe wieder zurück in mein Zimmer. Auf einmal sitzt da jemand auf einem Stuhl, der sich vor dem Fenster befindet. „Was ist los?“, fragt Ute mich besorgt. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und bekomme kein Wort hoch. Sie steht auf und bewegt sich zu mir. Mein Magen zieht sich zusammen und ich schaue sie bloß an – angewidert von der Vorstellung, dass sie mich gehört hat. „W-warum bist du hier?“, stottere ich. „Willst du mich verarschen? Wir teilen uns dieses Zimmer. Außerdem mache ich mir Sorgen um dich.“

Ich bin einerseits gerührt, aber dennoch ist es mir peinlich, was mir das Verlangen gibt, sie anzuschreien, dass sie doch abhauen solle – doch irgendwie ist mir gerade nicht danach… Nun steht sie direkt vor mir. Sie schaut in mein Gesicht, in meine verheulten Augen und ich in die ihren – grün wie eine saftige Wiese. Plötzlich umarmt sie mich. „Wenn was ist, bin ich immer für dich da. Ich verspreche es.“ Meine Augen brennen wieder, doch ich will nicht wieder heulen. Ich will ihren Griff lösen und versuche es anfangs, doch letztendlich lasse ich es… Denn es ist ein schönes und warmes Gefühl. So warm war mir lange nicht mehr. Ihr Rumgebrülle fällt mir auch nicht mehr auf. Ich erwidere ihre Umarmung und schluchze leise.

Völlig übermüdet wache ich auf – mein Arm tut höllisch weh. Als ich die Augen öffne, sehe ich Ute neben mir in meinem Bett liegen – auf meinem Arm. Ich ziehe ihn langsam und vorsichtig unter ihr weg. Wenn sie aufwacht, brüllt sie bestimmt wieder rum. Das kann ich am frühen Morgen gar nicht gut vertragen. Ich klettere leise über sie rüber und gehe ins Bad. Den Blick in den Spiegel hätte ich besser nicht riskiert – dunkle Ringe unter meinen Augen, meine Haut noch blasser als sonst. Zerzaustes, dunkelbraunes, schulterlanges Haar, fett wie immer und ein riesiger, hässlicher Pickel auf der Stirn. Verdammt, bin ich hässlich.

In solchen Momenten wünschte ich mir, ich hätte wie andere Weiber 100 Kilo Schminke, die ich mir in die Fresse klatschen kann. Aber eigentlich finde ich das ekelhaft. Nachdem ich im Bad fertig bin, klettere ich wieder über Ute ins Bett. Dass es recht eng ist, ist mir egal. Ich bin eh kurz davor, im Stehen einzuschlafen. Außerdem ist Ute eh nur ein halbes Hemd – wegen ihrer Magersucht. Als ich aufwache, ist Ute verschwunden und die Sonne scheint in das Zimmer.
Als wäre die Sonne noch nicht schlimm genug, klopft es jetzt auch noch an der Tür. Die wissen doch, dass ich schlecht drauf bin, wenn ich gerade aufgewacht bin.

„Was ist denn?!“ Mechthild öffnet die Tür und kommt rein. „Ich hab‘ nicht gesagt ‚Herein‘. Ich habe gesagt: ‚Was ist denn?!‘ – aber ist ja jetzt auch egal…“ murmele ich. Sie wirft mir einen verständnislosen Blick zu und sagt: „Es ist Nachmittag. Du hast schon wieder eine Kunst-Therapie verpasst. Wenn du so weitermachst, bekommst du eine Ausgangssperre.“ – „Willst du mich verarschen? Was kann ich dafür, wenn mich in diesem Saftladen keiner weckt?“
Einen Moment lang starren wir uns gegenseitig an. Dann sagt sie ruhig: „Ich habe dich drei mal geweckt. Jedes Mal hast du einfach weitergeschlafen.“

Daran kann ich mich irgendwie gar nicht erinnern… „Oh…“, sage ich verlegen. „Steh jetzt bitte auf, du hast in einer halben Stunde dein Gespräch bei Johannes. Das ist wirklich wichtig… Deine Mutter wird auch dabei sein. Es sei denn, du willst deine Diagnose nicht hören.“ Ach du scheiße, das ist ja heute. Und meine Mutter ist auch noch dabei… Mal sehen, was die sich für einen Quatsch ausgedacht haben. Immerhin kreuze ich bei den ganzen Tests und Stimmungskurven einfach nur irgendein Zeug an. Hauptsache, die drehen mir nicht schon wieder irgendwelche Tabletten an. Bevor ich es merke, ist Mechthild schon wieder verschwunden. Merkwürdige Frau. Und während ich mir die Zähne putze, denke ich darüber nach, wie ich sie am besten loswerden könnte…

Immernoch im Gedanken bei Mechthild verlasse ich mein Zimmer und gehe mit gesenktem Kopf Richtung Küche. Wieso habe ich nur immer das Gefühl alle würden mich anstarren? Bin ich so was wie ein Monster oder hab ich Blut im Gesicht oder was? Scheiß drauf. Ich setze mich an den Tisch. Mal wieder ein scheiß Tag, ich wünschte meine Mutter hätte eine Autopanne und das Gespräch mit Johannes würde nicht stattfinden. Aber bei meinem Glück passiert das garantiert nicht. Mechanisch kaue ich auf dem Brötchen herum und fast verschlucke ich mich, als Kai freudestrahlend in die Küche kommt.

„Na, wie geht’s?“, fragt er und sieht mir direkt in die Augen. Das ist mir irgendwie peinlich, ich weiß auch nicht, warum mir so was immer unangenehm ist. „Geht so“, presse ich hervor und fast fällt mir ein Stück Brötchen aus dem Mund. Wie peinlich ist das denn, denke ich und werde rot, das fühle ich sofort. „Haben heute das Gespräch mit Johannes und meiner Mutter, vielleicht kann ich ja bald zurück.“ murmele ich. Zurück? Wo soll das eigentlich sein, dieses Zurück?
„Ok, dann mal viel Glück und halt die Ohren steif „, sagt Kai und verschwindet Richtung Flur. Um 10 Uhr soll das Gespräch stattfinden – noch 15 Minuten. Ich trinke mein Glas Wasser im Stehen aus und gehe zu Johannes Bürotür. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Plötzlich geht die Tür auf und Johannes steckt seinen Kopf durch den Spalt.

„Ach, da bist du ja schon, komm doch rein oder willst du hier draußen auf deine Mutter warten?“, fragt er und sieht mich ernst an. „Ich komme mit rein, wer weiß wann die auftaucht…“, sage ich und schiebe mich an ihm vorbei. Nach einer Ewigkeit erscheint dann meine Mutter. Hochglanzgestylt, Parfümnebelschwaden verteilend kommt sie hereingestürmt. „Oje, bin ich etwa zu spät dran?“, fragt sie mit beschämtem Gesicht. Johannes schweigt und ich kann sie nur anstarren. Meine Mutter! Wie immer – nur peinlich. „Nein, nein, es wäre nur gut, wenn wir sofort anfangen könnten, ich habe heute noch viele andere Termine“, sagt Johannes.

Ich nicke und meine Mutter sieht ihn lächelnd an. „Ich versuche natürlich alles so verständlich zu erklären, wie es mir möglich ist. Das gesamte Team hat mehrmals über Lillys Situation gesprochen. Viele Diagnosen, ja, ich sagte viele, sind eindeutig. Andere dagegen sind noch etwas unklar. Lilly leidet eindeutig an einer posttraumatischen Belastungstörung. Darüber hinausgehend hat sich eine SVV-Störung (Selbst-Verletzendes-Verhalten) manifestiert, was allerdings keine eigenständige Diagnose beinhaltet. Sie zeigt eine akute Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ebenfalls ist eine Schizophrenie nicht völlig auszuschließen. Alles in Allem, können und dürfen wir Lilly in diesem Zustand nicht gehen lassen. Sie ist eine Gefahr für sich und für Andere. Es tut mir wirklich sehr leid“, sagt Johannes und atmet tief ein. Ich starre ihn an und in meinem Kopf fängt es wieder an zu rauschen und ich habe nur noch den Wunsch zu töten. Alle die hier sind zu töten, egal wie.

Ich schaue zu meiner Mutter und warte auf ihre Reaktion. „Sind Sie sich da sicher?“, fragt sie Johannes mit ungläubigem Blick. „Ja, sehr sicher. Anfangs war ich ebenso skeptisch wie Sie, aber ihr bisheriges Verhalten in der letzten Zeit hat diese Thesen bestätigt. Wir hatten ebenso gehofft, es würde besser werden… Jedoch ist es das genaue Gegenteil. Es wird immer schlimmer“, erklärt er. Was wird schlimmer? Etwa mein Verhalten? Manchmal frage ich mich, was die hier alle geraucht haben. Wie soll man sich denn bei den ganzen Bekloppten hier normal verhalten?! „Verstehe…“, meint meine Mutter und zieht eine Augenbraue hoch, bei der ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob sie nun echt ist oder bloß aufgemalt ist. „War das alles?“ „Äh… Ja. So in etwa. Lilly sollte außerdem noch ein paar Monate hier verweilen. Meine Kollegen und ich werden uns diesbezüglich noch beraten. Ich werde Ihnen weitere Informationen zukommen lassen.“

Meine Mutter und Johannes stehen auf und gehen in Richtung Tür. Und ich, ich sitze noch auf diesem Stuhl. Diesem kratzigen Scheißding. Gedankenlos starre ich Löcher in die Luft und merke allmählich, wie mir schwarz vor Augen wird. Als ich meine Augen aufmache, finde ich mich auf meiner Mutter vor. Ich halte eine Schere in der Hand und halte sie ihr an den Hals. Johannes steht wie angewurzelt neben mir. Als wüsste er nicht, was er tun soll. Ich sehe die Angst in den Augen meiner Mutter. Diese Angst… Irgendwie macht es mich glücklich. Die Panik davor, damit zu enden, von der eigenen Tochter die Kehle aufgestochen zu kriegen. Aber ist das gut so? Sollte ich meiner Mutter wirklich so was derartiges antun? Wollte ich ursprünglich nicht, dass alles wieder gut wird und ich aus dieser Bruchbude rauskomme? Dass ich wieder zu Hause sein kann, um wieder diesen kitschigen Schlafanzug zu tragen und dieses köstliche Essen meiner Mutter zu genießen? Dass ich mich wieder entspannen kann? Meine Augen fangen an zu brennen und ich lege die Schere beiseite.

Mal wieder muss ich heulen. Warum bin ich nur so schwach? Wie ein Wasserfall laufen Tränen an meinem Gesicht herunter. Auf einmal zieht mich jemand ruckartig nach oben. Es ist Johannes. Er hält mich fest und sieht mich mit seinen durchdringenden Augen an. Dieser Blick beruhigt mich irgendwie auf gewisse Art und Weise. Aber… irgendwas stimmt nicht. Woher kommt das Mädchen, was sich hinter Johannes befindet? Ich sehe mich hektisch um und versuche, Johannes‘ Griff zu lösen mit meiner ganzen Kraft. Plötzlich höre ich ein lautes Rauschen, welches sich grässlicher als so manch andere Geräusche anhört. Es fühlt sich so an, als würden meine Ohren zerfetzt werden. Gerade, als das Rauschen verstummt, höre ich, wie jemand mit mir redet: „Lilly, willst du das? Willst du, dass das so endet?“ Bin ich wirklich so bekloppt, wie andere behaupten, oder weshalb höre ich mittlerweile, wie irgendwelche nicht existierenden Weiber mit mir reden? Mir wird wieder schwarz vor Augen und ich falle zu Boden.

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