Schwarz-Weiß (Teil 8)

Dieser Eintrag ist Teil 8 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Ich gucke noch einmal nach, ob mich jemand sehen könnte und renne sofort die Treppe runter. Hoffentlich hört mich keiner. Unten angekommen sehe ich den Haupteingang. Dieser quietschgelbe Haupteingang mit den Plastikblumen… Widerlich. Ich bleibe stehen und mustere den Raum. Er ist gelb, orange und grün eingerichtet. Schlimmer geht’s nicht.
Ich bin echt froh, wenn ich hier weg bin. Das ist doch alles zum Kotzen. Ich schreite weiter auf den Haupteingang zu und öffne die Tür, während ich sofort an den dunklen Himmel gebunden bin und den Mond, umgeben von Sternen, beobachte. Meine Lunge füllt sich mit frischer Luft und ich muss schon fast zufrieden lächeln.

Nein. Nein, das kann so nicht richtig sein. Was ist mit meinen Sachen? Und wenn sie mich finden, was dann? Bestimmt werde ich dann noch länger dort festgehalten und komme vielleicht sogar auf die geschlossene Station. Will ich das wirklich? Ich drehe mich wieder zur Tür und lege meine Hand an die Türklinke. Im nächsten Moment fühle ich einen heftigen Schlag auf meinem Hinterkopf und falle zu Boden…

Ein entsetzlicher Schrei lässt mich zusammenzucken und ich öffne meine Augen. Es ist dunkel. So dunkel, dass ich nichts erkennen kann. Mein Schädel tut höllisch weh und fühlt sich so an, als würde er in Brand stehen. Ich versuche, mir an den Kopf zu fassen, doch es gelingt mir nicht. Nachdem ich realisiere, dass ich irgendwo drangekettet bin, rüttele ich hektisch an den Ketten. Ich sitze noch nicht einmal auf einen Stuhl oder so, ich stehe. Noch nicht einmal hinsetzen kann ich mich, so stark werde ich nach oben gezogen.

Mir wird kalt. Warum spüre ich meine Klamotten nicht mehr an mir? Bin ich etwa nackt? Und wo zur Hölle bin ich?! Plötzlich schaltet jemand das Licht an, welches mich kurzzeitig erblinden lässt. Als ich wieder sehen kann, starre ich verwirrt mit zugekniffenen Augen nach vorne. Dort steht wieder das Mädchen mit den blonden Haaren. „Verdammte Scheiße. Sag mal, was willst du eigentlich von mir und warum tust du das?!“, brülle ich sie an. Ich spüre ein Brennen auf meiner Wange. Sie hat mich geschlagen – mit einer Gerte? „Nicht in so einem Ton, du Zicke. Sonst gibt’s gleich noch eine“, ermahnt sie mich.

„Um auf deine Frage zu antworten… Du warst ungezogen. Und ungezogene Mädchen müssen bestraft werden.“ Ungezogen? Was habe ich denn getan, dass die mich hier nackt und angekettet ‚rumstehen lässt und mich mit einer Gerte verkloppt? Sie geht langsam vor mir hin und her und schlägt mit der Gerte in ihre Hand. „Du willst sicherlich wissen, warum du nackt bist und hier so erbärmlich hängen darfst…“, fängt sie an zu erzählen. Ach, ich DARF also? „Nun, das ist ganz einfach. Erstens, du kannst dich nicht wehren und wild rebellieren.“ Sie bleibt vor mir stehen und grinst mir gierig ins Gesicht. „Und zweitens… Wie könnte ich deinem wunderschönen und vernarbten Körper bloß widerstehen?“ Die will mich doch verarschen. Bitte sag mir einer, dass diese Show hier ein Traum ist.

Sie holt erneut aus und die Gerte trifft mit einem lauten Klatschen auf meinem Bein auf. Ich zucke zusammen und keuche. Mein Herz fängt an weh zu tun, als hätte sie nicht auf mein Bein geschlagen sondern mein Herz durchbohrt. Gekrümmt vor Schmerz verfolge ich sie mit meinen Augen. Sie geht wieder vor mir hin und her. „Wer bist du?“, frage ich. „Wer ich bin?“ Sie sieht aus, als hätte sie schon lange auf die Frage gewartet und grinst wieder. „Vielleicht bin ich ja eine Ausgeburt deiner Fantasie? Vielleicht bin ich eine längst von dir vergessene Person?“ Sie kommt mir näher und hält ihren Kopf neben meinen. Ich spüre dieses begierige Grinsen und ihren kalten Atem an meiner Wange. Warum genieße ich bloß ihre Gegenwart?

„Vielleicht bin ich auch einfach nur du“, haucht sie in mein Ohr. „Ich? Was soll das…“ Sie schaut ernst auf den Boden direkt vor mir. Meine Stimme verstummt. Ich senke meinen Kopf und folge ihrem Blick. Vor meinen Füßen liegt ein Päckchen mit einer roten Schleife und einem Namen drauf Als Absender steht auf einem Schildchen: „In Liebe, Florian“.

Aus weiter Ferne höre ich dumpf ein paar Stimmen… „Ich weiß auch nicht, wie sie durch die Tür gekommen ist. Ich dachte, Samuel hätte alles unter Kontrolle. Aber anscheinend war die Türverriegelung defekt.“ „Mag sein. Aber es muss doch auffallen, wenn eine Patientin plötzlich verschwindet!“ Die Stimmen verstummen. Ich fasse mir an meinen schmerzenden Schädel. Mann, was ist bloß wieder passiert? Wäre ich einfach in meinem Zimmer geblieben, würde mir nicht alles weh tun. Oder war das bloß ein Traum? Keine Ahnung. Doch ich spüre noch immer den Schmerz auf meiner Wange und auf meinem Bein, mich das blonde Mädchen mit der Gerte geschlagen hat.

Ich öffne meine Augen. Der Raum ist mir fremd. Er ist so weiß… Es vermittelt mir einen Hauch von Kälte. Wo bin ich? Was ist denn überhaupt passiert? Ich versuche mich aufzusetzen, doch mein Versuch scheitert. Mir tut alles weh. So höllisch weh. Ich mustere noch einmal den Raum. Das muss das Krankenzimmer der Station sein. Ich lege mich auf die Seite. Liegen fühlt sich gerade so gut an… Aber mir ist so kalt. Meine Augen werden nach kurzer Zeit schwer und schon schlafe ich ein.

„Lilly, du Vollidiot!“, höre ich jemanden rumbrüllen. Ich kenne diese unglaublich nervige Stimme doch. Das ist bestimmt diese Ute. Ist die behindert? Merkt die nicht, wie scheiße es mir gerade geht und ich so was gerade überhaupt nicht gebrauchen kann? Rasch schlagen meine Augen auf und ich gucke sie wütend an. „Mann, Ute. Was stimmt mit dir nicht? Warum musst du mich so aus den Schlaf brüllen?!“, schreie ich sie an. Die Schmerzen kommen sofort zurück und ich krümme mich. „Warum ich dich aus den Schlaf brülle?!“, schreit sie zurück, „Du Idiotin wolltest dich umbringen! Deshalb brülle ich dich an!“

Die denken alle ernsthaft, ich wollte mich umbringen? Sind die wirklich alle so dumm, wie ich denke? „Ich? Mich umbringen? Bist du blöd?“ „Erzähl das dem Weihnachtsmann! Die Überwachungskamera sagt da was anderes.“
„Wie jetzt?“, frage ich verdutzt, „Ich schwöre bei meinem verdammten Leben, mich hat man überwältigt und entführt und da war dann dieses Päckchen…“ Ich erzähle zu viel. Ich sollte auf jeden Fall meine Fresse halten. „Was für ein Päckchen? Du standest da einfach und hast dir mit einer Scherze am Arm rumgeschnitzt! Kein Päckchen, keine andere Person. Nur du und die Schere. Und wie auch immer du an den Nachtwachen vorbei und DURCH die geschlossene Tür gekommen bist.“

Ich sehe nachdenklich auf meinen verbundenen Arm. Dann schaue ich zu ihr auf. „Und wie auch immer DU an das Band der Überwachungskamera gekommen bist.“ Sie seufzt und setzt sich neben mich. „Ich hatte Angst um dich, Lilly… Bitte mach das nie wieder.“ Ihre Hand streicht durch meine Haare und ihr Blick trifft den meinen. Ich sehe die Sorgen in ihren Augen. Sie macht sich um mich Sorgen? Um MICH? Ich bin es nicht wert, dass jemand davor Angst hat, ob ich jetzt sterbe oder nicht. Ich bin einfach da, aber ebenso wenig nicht. Niemand braucht mich, ich brauche niemanden. So ist es schon lange, so wird es immer sein. Nie anders.

Ich muss wohl wieder eingeschlafen sein, denn als ich aufwache ist Ute weg. Neben meinem Bett steht Mechthild. „Was ist denn ?“, frage ich sie – wohl eine Spur zu unfreundlich. „Hier, deine Tabletten.“, sagt sie trocken und drückt mir Tablette und ein Glas Wasser in die Hand. Scheiß Klapse, scheiß Tabletten, scheiß Leben. „Wird das heute noch was?“
Ich nehme die Tablette in den Mund, verstecke sie unter meiner Zunge und trinke einen Schluck Wasser. Zufrieden verlässt sie wieder den Raum. Ohne darüber nach zu denken reiße ich den Verband von meinem Arm. Langsam streiche ich über die Naht. Es tut gar nicht weh. Was ist denn nur passiert? Ich kann mich nicht erinnern. Bin ich denn wirklich bekloppt ? Eigentlich will ich doch leben oder nicht? Es wird warm an meinen Fingern, ich spüre ein leichtes Brennen – ich blute. Warum blute ich?!

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