Mein Blick schweift durchs Zimmer und bleibt an dem großem Baum vor dem Fenster hängen. Mir wird plötzlich ganz heiß und dieses furchtbare Rauschen in meinem Kopf… Eigentlich sollte ich jetzt Johannes rufen, aber ich bin nicht in der Lage meinen Blick von dem Baum abzuwenden. Der Wind lässt einen leblosen Körper hin- und herschwingen.
Der Regen durchnässt seine Jacke, seine Augen sind aus den Höhlen hervorgetreten. Dieser furchtbare Schrei, er verfolgt mich in all meinen Träumen, er ist immer in meinem Kopf. Der Schrei meiner Mutter, als sie aus dem Fenster sah. Wie gebannt starre ich aus dem Fenster. Es klopft wieder an der Tür. Ich schrecke auf und sehe mich um, schaue wieder aus dem Fenster. Er hängt dort immer noch. Langsam öffnet sich die Tür und jemand tritt ein. „Lilly…“, flüstert Daniela, eine Mitpatientin, meinen Namen. Ich höre es, ignoriere es aber. Sie berührt mich an der Schulter. „Lilly!“ „Was ist denn?!“, raune ich sie an. Sie späht aus dem Fenster und versucht zu erkennen, wonach ich Ausschau hielt. Eine Sekunde später steht sie vor mir und ich sehe in ihr Gesicht. „I-i-ich…“ „Hör auf mit dem Gestotter und sag mir, was du willst!“ „M-m-echthild hat gesagt, ich so-soll dich zur A-a-abendbesprechung holen, weil du nicht kommst.“
Das hatte ich ganz vergessen… Wieder dieses dumme Gelaber. Jeden Tag das Selbe. Jeder erzählt, was er den Tag so gemacht hat und wie es ihm geht, bla bla bla. Wenn es einem scheiße geht, heißt es: „Willst du drüber reden?“, sagt man „Nein.“ ist das auch in Ordnung. Ich verstehe zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber egal. Ich höre, wie die Tür hinter mir zufällt. Daniela ist längst gegangen. Sie ist… unheimlich. Sagt kaum was, schminkt sich wie eine Gothic-Tussi… Aber sie wirkt harmlos. Auch, wenn irgendetwas an ihr mein Interesse weckt. Was viel wichtiger ist: ich muss endlich meine Anfälle unter Kontrolle bekommen. Und zwar ohne Medikamente. Keiner darf merken, dass ich sie nicht nehme. Morgen geht’s zu Mama, da muss ich die Medikamte bestimmt nicht nehmen… und dann sehe ich meinen Bruder, den Idioten. Langsam stapfe ich den Gang entlang zu der Couch, wo die gesamte Gruppe wartet. Sie sitzen schon alle da und gaffen mich an…
„Da wir ja endlich vollzählig sind, kannst du ja anfangen, Lilly.“, sagt Mechthild und sieht mich erwartungsvoll an. Wieso ich schon wieder? Ich verdrehe die Augen. „Okay, was soll ich denn erzählen?“, frage ich leise. „Du fährst doch morgen nach Hause. Fühlst du dich gut, wenn du daran denkst?“ „Geht so…“ „Etwas ausführlicher geht es nicht?“ „Nein!“, schreie ich ihn an. Sofort tut es mir schon wieder leid, aber jetzt ist es zu spät. Ich stehe auf und ohne mich nochmal umzusehen, gehe ich in mein Zimmer. Ich spüre wie die Blicke mir folgen. Mein Zimmer? Seltsam, dass ich das denke, eigentlich habe ich schon lange kein eigenes Zimmer mehr…
Die Nacht war lang, gleich werde ich abgeholt, irgendwie fühle ich mich komisch. Angst? Jemand klopft an meine Tür, ich nehme meine Tasche und schon stehe ich meiner Mutter gegenüber. „Sollen wir sofort fahren?“, fragt sie mich, aber nicht mal diese simple Frage verstehe ich wirklich. „Was, wieso denn nicht? Was hast du denn noch vor?“ „Okay, dann los.“ Ungefähr 20 Minuten dauert die Fahrt und das Schweigen im Auto tut fast schon weh. Dieses Schweigen. Als würde es schreien: Wir haben uns nichts zu sagen! Eine gefühlte Ewigkeit später hält das Auto an und ich sehe mir das Haus, in dem ich so lange gewohnt habe, an. Es erscheint mir so groß, kalt und irgendwie fremd. Plötzlich geht die Haustür auf und in der Tür steht ein grosser blonder Junge. Den hatte ich ja schon fast wieder verdrängt. Diesen Idioten gibt es ja auch noch. „Hallo.“, sagt er und ich weiss nicht, ob mir von der Fahrt so schlecht ist…, aber augenblicklich muss ich kotzen. „Tolle Begrüßung“, sagt er und geht Richtung Haustür. Nach einer halben Ewigkeit Rumgekotze, sehe ich es. Es steht genau neben der Haustür. Das Päckchen mit meinem Namen drauf. Auf dem Päckchen steht: „von Florian“.
„Schon wieder so eine Scheiße…“, murmel ich zähneknirschend in mich hinein. Mir ist noch ganz schlecht. Ich gehe so schnell wie ich kann, ohne dass es wirklich auffällt zu dem Päckchen. So fest wie ich kann, trampel ich darauf herum.
„Sag mal, bist du irgendwie ein bisschen bescheuert oder so?“, fragt mich der Junge. Er ist mein großer Bruder – Dennis… Der Engel schlechthin. Mamas Liebling. Der, der immer alles mit Links schafft – und das hat nichts damit zu tun, dass er Linkshänder ist. Sein Abitur hat er mit 1,2 abgeschlossen. Streber. Keine Ahnung was er jetzt macht. Hat mich auch nie wirklich interessiert, was die Dumpfbacke macht. Er versteht mich nicht. Ich sehe ihn an. „Du bist der, der bescheuert ist!“ Abfällig blickt er mich an. „Kleines, was haben sie dir in der Klapse angetan? Wurde dir der Rest von der zu nichts zu gebrauchenden Brühe auch noch aus deinem Kopf entfernt?“ Ich hole aus, um ihn zu schlagen, aber er hält meine Hand fest und lacht. „Du bist echt behindert, Junge.“, fauche ich ihn an, reiße mich los und gehe ins Haus.
„Sagt die Gestörte zum Genie.“, ruft er mir hinterher.
Ich werde fast erschlagen von diesem Geruch, als ich durch die Tür komme. Sofort halte ich mir die Nase zu. Ist ja nicht so, als wäre ich schon schlecht gelaunt genug. „Was ist das?!“ Weihrauch. Mama hat vor Kurzem wieder die ganze Bude ausgeräuchert. Bestimmt extra, weil sie wusste, dass ich komme. Von wegen „das schlechte Karma vertreiben“ und so ein Schwachsinn. Vielleicht liegt das in der Familie, dass alle ein bisschen bescheuert sind. Komisch, dass ich normal im Kopf bin. Es ist recht düster in der gesamten Wohnung. Das liegt möglicherweise daran, dass es draußen schon dämmert und die Energiesparlampen nicht besonders hell leuchten. Bei diesen scheiß Lampen habe ich immer den Eindruck, als würde der Raum noch dunkler, wenn man sie einschaltet. Das gibt der Umgebung immer diesen zwielichtigen Touch. Ich fühle mich sofort wohler als in der Psychatrie, wo alles weiß und ausgeleuchtet ist. Aber irgendetwas bedrückt mich hier. – Das ist mir früher nie aufgefallen. Ein beklemmendes Gefühl. Ich gehe nach oben und drücke die Türklinke zu „meinem“ Zimmer herunter. Als ich langsam die Tür aufdrücke und das Innere erblicke, wird mir schon wieder schlecht.
Alles ist noch genauso wie es war, bevor sie mich weggeschickt haben. Die Poster, das Regal, meine Spieluhr, die mein Vater selbst gemacht hat, einfach alles, außer… Das Fenster, das Fenster mit Ausblick in den Garten. Mit Ausblick auf den Baum, der zu dieser Jahreszeit keine Blätter hat, damals hatte er viele rote Blätter. Hübsch haben sie es gemacht. Mit Blumen, einer neuen Gardine, aber den Ausblick konnten sie nicht verändern. Ich sehe in den Garten. Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern wie schön es hier mal war. Als wir noch eine Familie waren. Als mein Vater noch da war. Als kleines Mädchen habe ich immer auf seinem Schoss gesessen und ihm meine „Kleinmädchensorgen“ erzählt und er hat zugehört und weiter aus dem Fenster gesehen, nichts gesagt, nur zugehört. Dachte ich damals, bis ich erfuhr, dass er schwer depressiv und er in seiner eigenen dunklen Welt gefangen war.
Ein lautes Krachen reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Bruder kommt ohne Anklopfen in mein Zimmer und grinst mich bescheuert an. „Was willst du?“, schreie ich ihn an. „Wir wollen den Tannenbaum schmücken, kommst du?“, fragt er und sieht mich fragend an. „Ich komme gleich.“, sage ich, aber nur um ihn wieder loszuwerden. Ich sehe wieder aus dem Fenster, starre den Baum an und plötzlich sehe ich einen Schatten. Sehe ich wirklich etwas oder werde ich jetzt endgültig bescheuert? Es wird schon dunkel und ich reibe mir die Augen bis sie weh tun. Nochmal wage ich einen Blick in den Garten und was ich jetzt sehe, macht mir solche Angst, dass mir augenblicklich die Luft weg bleibt. Mein Herzschlag rauscht in meinen Ohren, meine Hände zittern und ich schreie so laut, wie noch nie zu vor in meinem ganzen Leben. Meine Angst ist so groß, sie erfüllt den gesamten Raum und das Zimmer beginnt sich um mich herum zu drehen. Die Ohnmacht erlöst mich von dieser furchtbaren Angst, ich bin frei…
Als ich die Augen aufschlage, ist mir wieder total übel. Ich drehe mich und würge, doch mein Magen ist leer. Ich habe fürchterliche Bauchschmerzen… Kommt sicher vom ständigen Kotzen. Man, das nervt. Mein Bruder sitzt am Ende des Bettes und sieht mich besorgt an. „Was guckst du so scheiße?“, mecker ich ihn an. Er steht auf und verlässt das Zimmer. Ich zwinge mich dazu, mich aufzusetzen. Meine Mutter kommt durch die noch offen stehende Tür ins Zimmer. „Du wirst doch jetzt nicht auch noch krank oder, Liebes?“ Sie sieht mich besorgt an. „Ich denke, ich habe bloß was Falsches gegessen. Den Fraß in dem Scheißverein da kann man ja kaum ertragen.“ Sie schüttelt leicht den Kopf. Ich stehe auf und gehe Richtung Bad, um mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Dann geht’s mir bestimmt besser.
Wir feiern mit der ganzen Familie oder gar nicht, sagte sie immer. Deshalb muss ich nicht nur meinen Bruder und meine Mutter ertragen, sondern auch noch meine bescheuerten Großeltern und meine Tante mit der Hakennase. „Wir sind doch eh keine richtige Familie!“, schreie ich durch den ganzen Flur. Keine Reaktion. Scheiß Weihnachten.
Weihnachten habe ich morgen überstanden und wie immer war meine hakennasige Tante wieder sternhagelvoll. Eigentlich war es ja ganz schön, aber wir waren eben nicht vollzählig. Aber scheinbar hat das niemanden gestört. Die sind bestimmt sogar froh, dass er tot ist. Niemand sieht gerne die Traurigkeit, die Angst und die Hoffnungslosigkeit eines Depressiven, eines Verrückten… Ja, sie sind froh das er weg ist. Und ich bin froh, wenn ich wieder hier weg bin.
Ich sehe aus den Fenster, sehe den Schnee, der die Äste des Baumes einhüllt. Schön sieht er aus, so ganz ohne Blätter, eingefroren und nackt. Mir kommen die Tränen…, ich habe ihn geliebt, so wie er war, still und einsam in seiner Welt versunken. Mal wieder kommt mein Bruder ohne an zu klopfen in mein Zimmer und redet los, ohne Luft zu holen. Ich höre nicht zu, denn ich habe noch nie verstanden, was er sagt. „Morgen bin ich wieder weg“, sage ich ohne ihn anzusehen. „Ja, ich weiß“, erwidert er und geht.
Scheiß Familie, scheiß Weihnachten, scheiß Leben, denke ich und muss nun endgültig heulen. „Kommst du zum Essen?“, ruft meine Mutter aus der Küche. „Ja, ich komme gleich“, schreie ich zurück und schon während ich es rufe wird mir schlecht und ich muss ins Bad renne. Nachdem es mir wieder etwas besser geht, sehe ich in den Spiegel und erschrecke mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Ich sehe alt aus, dabei bin ich erst 15 Jahre. Alt und müde, müde vom Leben, müde vom Nachdenken. Ich sehe auf dem Regal die Schere, sie glänzt und glitzert im Licht der Lampe.
Meine Hand greift nach der Schere. Ich habe keine Angst mehr, keine Gedanken, keine Tränen. Mit aller Kraft stoße ich mir die Schere in den Bauch und plötzlich fühle ich mich frei. Der Tod lächelt mir zu, mir wird warm und wohlig.