Schwarz-Weiß (Teil 5)

Dieser Eintrag ist Teil 5 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Ich schnappe mir meine Tasche und meine Geschenke, die immer noch ungeöffnet auf dem Boden liegen und renne nach unten. Mein Bruder steht am Ende der Treppe und scheint auf mich zu warten. „Was willst du?“ frage ich ihn und merke selbst wie aggressiv das klingt. „Ich? Ach nichts“, sagt er und sieht weg. „Ok. Bis dann mal!“ rufe ich zum Abschied über die Schulter und schon bin ich im Auto. „Kann’s losgehen?“ fragt meine Mutter. Ich nicke ihr zu und schon fährt sie los. Irgendwie geht jetzt alles zu schnell, sogar die Bäume am Straßenrand rauschen an uns vorbei. Ich möchte schreien: „Fahr doch langsamer – ich möchte noch bei euch sein!“ Doch ich kann es nicht. Mein Herz tut mir weh und ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen. Angst und Einsamkeit kriechen an mir hoch. Ich versuche zu schlafen, doch meine Mutter redet unaufhörlich auf mich ein. Von dem was sie sagt verstehe ich kein Wort.

Ich denke an meinen toten Bruder, an das Boot, an Weihnachten… Das Auto bleibt stehen und ich höre meine Mutter fröhlich sagen: „Wir sind da.“ Als hätten wir einen Sonntagsausflug gemacht oder sowas. Ich weiß auch nicht, was sie sich dabei denkt. Es ist schon dunkel und aus den Fenstern scheint warmes Licht nach draußen. Irgendwie bin ich erleichtert wieder hier zu sein und doch bin ich auch traurig, das ich hier sein muss. „Soll ich mit reinkommen?“, fragt meine Mutter. „Nein, lieber nicht“, sage ich. Sie soll nicht merken, wie traurig ich bin. Niemand soll es merken. Niemals.

Ich gehe rein ohne mich nochmal um zu drehen und höre das Auto wegfahren. Als erstes fällt mir der Tannenbaum auf, der im Flur steht. Schön geschmückt, mit roten Kerzen und blauen Kugeln. Unter dem Baum liegen Geschenke und im vorbei gehen lese ich meinen Namen. Scheiß drauf, denke ich und versuche so schnell wie möglich in mein Zimmer zu kommen. Jemand ruft mich und genervt drehe ich mich um. Es ist Johannes, der mich freudestrahlend ansieht. „Hallo, Lilly, hattest du eine schöne Zeit zu Hause?“, erwartungsvoll sieht er mich an. „Geht so“, sage und drehe mich weg. Schnell gehe ich in Richtung meines Zimmers. Ich spüre seinen Blick in meinem Nacken und gehe noch etwas schneller.
In meinem Zimmer angekommen schließe ich hastig die Tür hinter mir. Meine Zimmergenossin ist noch bei ihren Eltern.

Endlich allein, denke ich und werfe die Weihnachtsgeschenke auf mein Bett. Fast im selben Moment sehe ich ein Päckchen auf dem Stuhl liegen. Eingepackt in braunem Papier, mit einer roten Schleife. Ich sehe es mir an und mein Herz schlägt schmerzhaft gegen meine Rippen. Meine Augen füllen sich mit Tränen und mir wird schlecht. Das kann nicht sein, denke ich. Auf der Karte steht: „von Florian – für Lilly“. Leise klopft es an der Tür und ein blonder Junge mit strahlend blauen Augen steckt seinen Kopf zur Tür herein. „Hey, ich bin Kai, der neue Praktikant, darf ich reinkommen?“
Mein Mund ist ganz trocken, ich starre ihn an und kann nur nicken. Plötzlich höre ich ein Rauschen und mein Kopf dröhnt…

„Lilly? Bist du fertig? Wir fahren gleich los.“, ruft meine Mutter von unten hoch. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, setze ein Lächeln auf und antworte, als sei nichts gewesen: „Ich komme sofort.“ „Ich komme sofort.“ Meine Oma schwelgt in traurigen Erinnerungen. Ich sehe zu ihr, doch sie scheint schon weit weg zu sein und bemerkt nicht, wie schnell ich wieder lächle. Wahrscheinlich hat sie nichtmal bemerkt, dass ich geweint habe. Niemand bemerkt, wie es mir geht, wenn mich etwas berührt. Und wenn doch, dann bin ich sofort abnormal. Leicht schüttle ich über die eigenen Gedanken den Kopf und mache mich eben fertig, damit meine Mutter nicht sieht, dass ich wieder geweint habe. Sie muss mich ja nicht wieder mit ihren Blicken bemitleiden wie krank ich doch sei. So laufe ich danach schnell die Treppe hinunter, schließlich würden sie sonst wieder rufen und noch ungeduldiger werden.

Sobald ich unten angekommen bin, verlassen meine Mutter, meine Cousine und ich das Haus und steigen in das Auto. Meine Mutter und ich vorne, meine Schwester hinter meiner Mutter. Sie hatte mich nicht gerne hinter sich sitzen, als befürchte sie, ich würde ihr an den Hals fallen. Absurd. Natürlich kam mit der Gedanke schon mehrfach, doch war der richtige Moment dafür noch nicht gekommen. Gelangweilt schaue ich aus dem Fenster, als wir losfahren. Wo fahren wir eigentlich hin? Ich weiß es nicht mehr – eine weitere Gedächtnislücke. Doch nachfragen will ich auch nicht.
Kurz schaue ich nicht nach vorne, schaute aus dem Seitenfenster und beobachte den riesigen Fluss, welcher neben der Straße her fließt. Ich muss wieder an meinen großen Bruder denken, den ich nie kennen gelernt habe. Ob er sehr gelitten hat? Ertrinken soll ein grausamer Tod sein. Mathias… Er wäre sicher ein toller Bruder geworden.

Kurz schließe ich die Augen, um mir vorzustellen, wie er heute wohl ausgesehen hätte, da wurde ich nach vorne geschleudert. Der Sicherheitsgurt hält mich noch gerade so und schneidet in meine Schulter. Mein Bruder Dennis und meine Mutter schreien, der Wagen fährt mit quietschenden Reifen von der Straße auf den Fluss zu. Oh Gott, nein! Durch den Abhang werden wir im Auto herumgeschleudert, meine Mutter versucht den Wagen zum Halten zu bringen und unter Kontrolle zu bekommen. Das laute Hupen des LKWs auf der Straße, welcher uns beinahe gerammt hätte, wurde von dem Schreien übertönt.Auch ich schreie, schaue entsetzt zu dem Fluss, welchem wir immer näher Kommen, versuche mich festzuhalten…

Im nächsten Moment wird es still, mit einem Mal hält der Wagen beinahe und poltert nicht mehr.
Langsam sinkt er runter, Schwester und Mutter versuchen sich schnell abzuschnallen, während das Wasser schnell in den Wagen eindringt und das Auto im Fluss versinkt. Vollkommen starr vor Panik und Unglauben starre ich auf das Wasser, versuche nicht einmal mich zu befreien, mich abzuschnallen oder die Türen zu öffnen. Dies ist durch das Wasser sowieso nicht mehr möglich. Die panischen Worte der beiden anderen bekomme ich nicht mehr mit, während ich darüber nachdenke, ob ich nun herausfinde, wie sich mein großer Bruder wohl gefühlt hat. Ertrinken.

Ich hatte mir einen anderen Tod vorgestellt… Halt, warte! Irgendwas stimmt hier nicht. Wie in einem schlechten Film hält die Zeit an und ich sehe zu meiner Mutter. Das stimmte nicht. Ich fahre nicht Auto. Der Praktikant, Kai, und das Päckchen. Genau! Das Päckchen von Florian. Wieder zieht sich in mir alles zusammen und mein Puls steigt, während die Umgebung vor meinen Augen verwischt… Mehrmals blinzle ich, ehe ich die Augen aufschlage und an eine weiße Decke starre. Bin ich umgekippt? Ich drehe den Kopf zur Seite und blicke direkt in die großen, blauen Augen des Praktikanten.

Er blickt behutsam auf mich herab. „Kaum, dass ich reinkam, bist du zusammengebrochen… Ich habe mich riesig erschrocken.“ Erklärte er und mir entwischt ein leises Seufzen, ehe ich mich aufsetze. „Ich war nur müde.“ „Sicher? Es sah nicht-“ „Müde! Ich war… und ich BIN müde, Kai.“ Er antwortete nicht weiter, steht auf und ging zur Zimmertür. Er hat mich wohl auf mein Bett gelegt. „Dann… schlaf gut…?“ fragt er unsicher, mich nochmal mit diesen strahlenden, blauen Augen ansehend, als wolle er direkt durch mich hindurchsehen. „Danke.“ antworte ich patziger, als gewollt und lasse ihn gehen. Sobald die Tür wieder zu ist, lasse ich mich nach hinten aufs Bett fallen und starre wieder an die Decke…

Ich lege mich unter die Decke und ziehe sie über meinen Kopf. Scheiße, scheiße, scheiße. Was war das denn schon wieder? Ich reiße an meinen Haaren und bekomme allmählich ein Brennen in meinen Augen. Ich rolle mich zusammen und merke, wie Tränen an meinen Wangen herunterlaufen. Es klopft erneut an der Tür. Genervt schrecke ich auf und wische mein Gesicht mit meinen Ärmeln ab. Anschließend setze ich mich auf. „Was ist?!“, schreie ich. Die Tür öffnet sich und jemand betritt den Raum. Es ist Florian.

Was will der denn schon wieder? Er kommt näher, schaut mir in die Augen und fängt an zu lächeln. „Hi… Wie geht’s dir? Wie war Weihnachten?“, erkundigt er sich. „Was willst du?“, raune ich. „Ich wollte nur reden. Fragen, wie es dir geht und so, weißt du?“, antwortet er. „Das kannst du dir sonst wo hinschieben“, brumme ich. „Kannst du jetzt abhauen? Ich will wenigstens ein paar Stunden Ruhe vor dir und den ganzen anderen Vollidioten haben.“ Sein Grinsen verflog. Sprachlos verlässt er den Raum und schließt die Tür fast lautlos. Schwachkopf. Ich lass mich wieder auf’s Bett fallen und drehe mich auf die Seite. Das Gefühl der Müdigkeit überführt mich und ich schlafe ein.

Ich öffne meine Augen. Noch müde setze ich mich langsam auf und schaue auf die Uhr, die sich neben meinem Bett befindet. Es ist 22:46 Uhr. Ich habe wohl den halben Tag verpennt. Ich stehe auf und schlendere zum Badezimmer. Den Lichtschalter umlegend schaue ich in den Spiegel. Ich schaue mir in die Augen, tief in die Augen. Schon allein dadurch, mich anzustarren, kommen mir wieder Tränen hoch. Schon wieder fange ich an zu heulen. Dieses Mal jedoch wehre ich mich nicht dagegen. Ich sinke zu Boden, rolle mich zusammen und lasse meinen ganzen Schmerz raus. Ich klage und jammere, hoffend, dass das niemand mitbekommt.

Weiterlesen<< Schwarz-Weiß (Teil 4)Schwarz-Weiß (Teil 6) >>

Kommentar verfassen