Schwarz-Weiß (Teil 7)

Dieser Eintrag ist Teil 7 von 10 der Serie Schwarz-Weiß

Es ist unglaublich ruhig. Als ich aufwache, stehe ich auf einer Straße. Meine Mutter und mein Bruder neben mir. Von hier aus hat man einen guten Ausblick. Es scheint eine Straße zu sein, die auf einen Berg führt. Kein Auto weit und breit. Kein Bürgersteig. Ich stelle mich an die Leitplanke, hinter der es steil bergab geht und lasse meinen Blick über die Waldlandschaft streifen. Ich drehe mich zu ihnen, versuche etwas zu sagen, aber kein einziges Wort kommt aus meinem Mund. Meine Mutter und mein Bruder starren gebannt an mir vorbei auf die Landschaft. Ich drehe mich wieder um und sehe wie am Horizont etwas passiert. Genau kann ich es nicht erkennen, aber es kommt schnell näher.
Plötzlich realisiere ich, was das ist: Eine gigantische Druckwelle kommt auf uns zu! Bäume werden plattgedrückt, rausgerissen oder fliegen durch die Gegend. Ich will meine Mutter und meinen Bruder anschreien, dass sie weglaufen sollen, doch statt dass Wörter aus meinem Mund kommen, fallen alle meine Zähne aus! Ich werfe mich auf den Boden, jeden Moment einen riesigen Knall erwartend…

In dem Moment schlage ich meine Augen auf – Schweiß steht mir auf der Stirn. Alles ist verschwommen. Ich liege in „meinem“ Bett – mit Fesseln fixiert. Hektisch sehe ich mich um. „Wollt ihr mich jetzt alle verarschen?!“, schreie ich. Ich reiße mit Händen und Füßen an den Fesseln, die mich am Bett festhalten. Da tut sich nichts. Plötzlich sehe ich ein vertrautes Gesicht genau vor mir und werde ganz ruhig. Es ist Kai. „Alles ist in Ordnung, mach dir keine Sorgen“, sagt er mit angenehmer Stimme. „Alles in Ordnung?! Bist du bescheuert? Ich bin am Bett festgekettet!“ Er sieht mich besorgt an, legt seine Hand auf meine und sagt ruhig: „Wir wussten nicht, wie du reagierst, wenn du aufwachst. Die Ärzte mussten dir starke Beruhigungsmittel geben. Kannst du dich an das erinnern, was passiert ist?“ Es rattert in meinem Kopf – er tut weh.

Ich reiße meine Augen auf und starre ihn an. „Habe ich jemandem etwas angetan?!“, platzt es aus mir heraus. „Nein, es ist noch mal alles gut gegangen“, erklärt er mir, während er mir ein paar Haare aus dem Gesicht streicht, „aber dein Zustand verschlimmert sich stetig.“ Ich lasse meinen Kopf auf das Kissen sinken. Kai steht auf und geht in Richtung Tür. – Ich sehe ihm hinterher. „Mechthild kommt gleich und macht dir das Fixierband ab, damit du aufstehen kannst. Wir sehen uns später.“ „Bis später“, sage ich leise. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, aber dann geht die Tür endlich auf und Mechthild kommt herein. Ich war noch nie so froh, diese Frau zu sehen. Immerhin erinnert sie mich an meine Mutter. Zumindest optisch. Leicht übergewichtig, ein bisschen länger als schulterlange, rot gefärbe Haare, eine ähnliche Frisur, ähnliche Gesichtszüge, eine Parfumwolke hinter sich herziehend…

Sie redet auf mich ein, mal wieder, während sie mich endlich von den Fesseln befreit. Und ehe ich mich versehe ist sie schon wieder weg. Irgendetwas von Medikamenten hat sie gefaselt. Die Tür geht wieder auf und sie drückt mir eine blau-rote Kapsel und ein Glas Wasser in jeweils eine Hand. So eine riesige Kapsel habe ich noch nie gesehen. Wie soll ich das runterbekommen? Ich sehe sie fragend an. „Mach schon. Es sei denn, du willst wieder eine Spritze.“ Ich nehme die Kapsel in meinen Mund und nehme einen großen Schluck Wasser. Ganz langsam und schmerzhaft rutscht es mir die Speiseröhre herunter und ich verziehe mein Gesicht. „In ein paar Minuten gibt es Essen“, sagt Mechthild, nimmt mir das Glas aus der Hand und verschwindet wieder. Langsam stehe ich auf. Meine Beine sind total wackelig. Was haben die mir schon wieder für Drogen verabreicht? Ich weiß es nicht.

Ich gehe ins Bad, schließe die Tür ab und wasche mein Gesicht. Scheußlich fühle ich mich. Ich kann kaum nachdenken und das Pochen der Kopfschmerzen wird stärker. Plötzlich werde ich von hinten umarmt. Ich reiße mich los und fahre herum. Dieses Mädchen schon wieder! Sie steht genau vor mir und es fühlt sich an, als würde sie mir mit ihren intelligent wirkenden, eisblauen Augen direkt in die Seele starren. Sie wirkt mager und hat sehr weiche Gesichtszüge.
Ich habe sie gesehen kurz bevor… mir wird schwindelig und meine Sicht verschwimmt. Das Rauschen in meinen Ohren wird wieder lauter, meine wackeligen Beine lassen nach und ich muss mich am Waschbecken stützen. Sie verpasst mir eine Backpfeife. „Was ist los mit dir?“, sagt sie mit einer Stimme die durch Mark und Bein geht, „Wenn du so weiter machst, gehst du den Bach runter.“

Erschrocken sehe ich sie an. Plötzlich ist alles unglaublich klar. Mein Blick richtet sich langsam zur Tür, bei der ich sicher war, dass ich sie verschlossen hatte. „Komm jetzt. Es gibt Essen“, sagt das Mädchen, fährt sich mit einer Hand durch ihre blonden Haare und verschwindet durch die weit offen stehende Badezimmertür. Ich bleibe wie versteinert stehen und starre ihr hinterher. Ich lege meine Hand auf meine schmerzende Wange. Langsam wäre eher die Frage interessant: Was habe ICH eigentlich geraucht?

Ein schwacher Windhauch lässt mich zusammenzucken. Ich sehe aus den Augenwinkeln blondes Haar und ertappe mich dabei, wie ich mein eigenes Haar mit den Fingern durchkämme. Ich starre in den Spiegel. Was ich dort sehe lässt mein Herz aufhören zu schlagen. Die Angst überwältigt mich und ich zittere am ganzen Körper. Ich habe die Kontrolle verloren. „Kommst du jetzt endlich zum Essen?“ Die Stimme ist mir vertraut, eine sanfte, fröhliche Stimme. Kai steht vor mir und sieht mich erwartungsvoll an. „Komm doch. Bitte!“ „Ich habe aber gar keinen Hunger. Muss ich denn?“ „Ja, du musst, mir zuliebe, ok?“ „Na gut, du lässt mich ja sonst eh nicht in Ruhe.“ Schweigend gehen wir in die Küche. Ich riskiere einen Blick in Kais Richtung. Er ist echt toll. Was er wohl über mich denkt… Bestimmt nichts Gutes, so wie ich drauf bin kann man es ihm auch nicht verübeln. Ich finde mich ja selber scheiße und so wie ich aussehe… Er hat bestimmt schon eine tolle Freundin. So eine mit langen blonden Haaren, langen Beinen und immer gestylt.

Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und stochere in dem Essen herum. So ein bekloppter Tag. So ein beschissen-bekloppter Tag. Gefühlte Stunden später, stehe ich einfach auf und verschwinde in meinem Zimmer. Ich fühle mich leer und erschöpft. Wie ausgesaugt. Eine bleiernde Müdigkeit überkommt mich. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwache ist es schon dunkel. Ich starre in die Dunkelheit, eigentlich habe ich Angst im Dunkeln. Ein leises Scharren, wie Fingernägel, die an der Wand entlanggleiten, lässt meine Angst noch wachsen. Das Geräusch wird lauter, bedrohlicher. Schlafe ich vielleicht noch? Angestrengt starre ich in die Dunkelheit, unfähig mich zu bewegen. Das Atmen fällt mir schwer, ich unterdrücke den Schluckreflex. Was ist das für ein fürchterliches Geräusch? „Lilly, Lilly, hörst du mich?!“ „Lilly, komm zu mir, hilf mir! Lass mich nicht allein hier, du bist doch mein Mädchen.“ Die Stimme lässt mir Tränen in die Augen schießen. Plötzlich bin ich wieder ein kleines Mädchen und der Baum vor meinem Fenster wiegt sich sanft im Wind hin und her.

Ich schüttele wild den Kopf. Nein, nein! Das kann nicht sein! Ich drücke mein Gesicht in ein Kissen und schluchze. Plötzlich wird mir das Kissen weggerissen und ich bekomme einen Schlag ins Gesicht. „Was stimmt mit dir nicht? Kannst du mal aufhören rumzuheulen?“ Benommen vom Schmerz und völlig erschrocken weiß ich gar nicht, was los ist.
Vor mir steht jemand im Dunkeln. „Steh auf. Wir müssen los“, sagt die Person – wieder mit dieser eindringlichen Stimme. Fast automatisch stehe ich auf. Im Mondlicht erkenne ich sie: es ist das blonde Mädchen. „Los jetzt!“ Völlig lautlos und ohne Mühe öffnet sie die schwere Holztür und einen Moment später ist sie bereits verschwunden. Langsam fällt die Tür zu. Ich haste leise zur Tür und halte sie im letzten Moment fest, damit sie nicht durch den automatischen Türschließer, der wie immer zu stark eingestellt ist, zuschlägt.

Dann riskiere ich einen Blick durch den Spalt. Der Gang ist dunkel und leer. Ganz hinten an der Ausgangstür sehe ich sie. Wie zum Teufel ist sie an dem Nachtbetreuer vorbeigekommen? Der Gang hat eine Art Geschwür, eine Auswulstung, etwa in der Mitte, die sich Aufenthaltsraum schimpft. Dort befindet sich ein Tisch, an dem tagsüber Karten gespielt werden. Ein paar Meter daneben ist eine Couch vor dem Fernseher, auf der jemand sitzt.
Ein stämmiger, muskelbepackter, schwarzer Mann. Ich habe ihn erst zwei oder drei Mal gesehen, als er Nachts kontrolliert hat, ob alle schlafen… Samuel heißt er… oder so. Ich starre in Richtung des Ausgangs. Mit einer Geste gibt sie mir zu verstehen, dass ich mich beeilen soll.

Jaja, ich mach‘ ja schon… Ich quetsche mich durch einen kleinen Türspalt und schließe behutsam die Tür; viel lauter als gewollt. Einen Moment verharre ich bewegungslos und warte darauf, dass sich irgendetwas tut. Es bleibt still und dunkel. Nur die Geräusche des recht leise gestellten Fernsehers sind zu hören und das Flackern des Bildschirms erhellt den Aufenthaltsraum, der sich geschätzt 15 Meter weit entfernt befindet. Langsam setze ich mich in Bewegung… Mit dem Blick auf den Ausgang gerichtet, gehe ich voran. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich da. Dann bin ich endlich frei…

Ich sehe, wie Samuel anscheinend schläft. Ok, eindeutig schläft er, sonst würde er nicht so nervtötend schnarchen. Mann, ich wusste gar nicht, dass das so einfach wird… Ich widme meinen Blick wieder der Tür, die sich langsam schließt. Warum ist die Tür offen? Ist die nicht normalerweise abgeschlossen? Moment, wo ist das Mädchen hin?
Ach, kann mir doch egal sein… Ich versichere mich, dass mich keiner bemerken wird und schleiche mich lautlos an ihm vorbei.

Dort angekommen hole ich noch einmal tief Luft. Ist das richtig so? Und wo soll ich dann eigentlich hin? Egal. Ich finde schon was. Nach Hause kann ich jedenfalls nicht. Ich öffne langsam die Tür, so dass die restlichen Nachtbetreuer mich nicht hören können und setze einen Fuß nach draußen. Gleich ist es soweit. Gleich bin ich draußen. Mein Puls rast wie wild vor Aufregung, als ich den letzten Schritt wage und die Tür wieder leise schließe. Nur noch durchs Treppenhaus, dann weg von hier.

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