Panisch fange ich an zu rufen. „Hallo? Ist da wer?“ Eine Betreuerin, die ich noch nie zuvor gesehen habe betritt den Raum. „Was ist los?“, fragt sie und sieht mich ernst an. „Ich glaube, ich blute“, meine Stimme piepst und mir wird augenblicklich schlecht. „Du hast dir die Naht aufgerissen, was hast du nur getan?“, sie wirkt hektisch und ruft mit ihrem Handy den Arzt. Mit einer Hand versucht sie die Blutung zu stillen, mit der anderen Hand hält sie ihr Telefon.
Ich versinke im Nebel und wie durch Watte höre ich aufgeregte Stimmen. Soviel Aufregung wegen dem bisschen Blut… dann werde ich in die Dunkelheit gezogen.
Plötzlich sehe ich mich selbst von oben auf einer Bahre in einem Raum liegen. Sieht aus wie ein Operationssaal.
Ich höre dieses ekelhafte Piepen von dem Gerät, das den Herzschlag misst.Wie hieß das noch mal? – Pulsoximeter?
Das Geräusch wirkt unregelmäßig. Alle sind total aufgebracht und hektisch. „Wenn Sie noch mehr Blut verliert, verlieren wir sie!“ Eine Schwester läuft hektisch weg. Weniger als eine halbe Minute später wird mir Blut von jemand anderem in die Adern gepumpt. Ekelhaft. Meine Augen sind halb offen und nach oben gerollt. Der Arzt hantiert mit verschiedenen Werkzeugen, die ich nicht benennen kann an meinem Arm rum und versucht, ihn zusammen zu flicken. Zwischendurch wird das viele Blut, das aus der Wunde herausläuft abgetupft.
Neben mir steht außer dem Arzt und zwei Frauen noch jemand anderes. Das blonde Mädchen. Die anderen scheinen sie nicht zu bemerken. Sie scheinen nicht zu wissen, dass sie existiert. Sie laufen durch sie hindurch. Bin ich verrückt?…
Regungslos liege ich auf der Bahre, während sie mir über die Wange streichelt. Dem Arzt wird Schweiß von der Stirn getupft. Es scheint eine schwierige Operation zu sein. Von der kleinen Schere? So schlimm kann es doch gar nicht sein!
Nach einer Ewigkeit senkt der Mann erschöpft den Kopf. Es wird totenstill. Alle starren mich – oder zumindest meinen Körper an. Bin ich tot? Ist alles in Ordnung mit meinem Körper? Warum sagt niemand was? Ich fühle mich unglaublich leicht und so gut wie noch nie…
Kann das denn alles wahr sein? Bin ich total durchgeknallt? Das blonde Mädchen, die Schere, die OP? Ist das alles Realität oder ist das meinem krankem Hirn entsprungen? So eine große Scheiße! Ich weiß nichts mehr. Kann es sein, dass ich den Irrsinn von meinem Vater geerbt habe? Kann man Irre-sein erben? Ich wünschte, Johannes wäre hier, ihn könnte ich fragen. Er ist ja schließlich vom Fach, er kennt sich doch mit Bekloppten aus. Mein Kopf dröhnt vom vielem Nachdenken oder denke ich gar nicht nach? Bin ich denn überhaupt noch hier? Ich versuche mich zu konzentrieren. Nein, ich klebe nicht mehr an der Decke. Wieder zurück in meinem Körper. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Auch das blonde Mädchen ist nicht mehr hier, ich höre auch niemanden mehr reden. Alles ist wie in Watte gehüllt, so dumpf und unwirklich. Ich fühle mich einsam und mir ist kalt, furchtbar kalt.
Ein zaghaftes Klopfen weckt mich aus meinem Dämmerzustand und ich versuche meine Augen zu öffnen. Ich warte und da ist es wieder. Dieses leise Klopfen. Mein Mund ist staubtrocken und ich kriege kein Wort heraus. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Ich starre wie gebannt auf die Türklinke. Nichts passiert. Totenstille. Langsam versuche ich aus dem Bett zu steigen und mir wird sofort schwarz vor den Augen. Schnell lege ich mich wieder hin und konzentriere mich auf meine Atmung. Ein, aus, ein, aus, jetzt müsste es gehen, denke ich und schlage die Decke zur Seite. Wieder klopft es, aber diesmal lauter und stärker. Ich bin fast an der Tür, als diese mit einem Ruck aufgestoßen wird. Fast bleibt mir das Herz stehen, mein Puls rast und Tränen der Erleichterung schießen mir in die Augen.
„Du?“, flüstere ich. „Hallo Lilly. Wie geht es dir?“ und ich bin plötzlich glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Ich kann ihn nur anstarren, unfähig ein Wort zu sagen. Er lächelt mich an und seine blauen Augen leuchten wie der Himmel und das Meer. Ach du scheiße, was denke ich nur für einen Müll. Ich spüre die heiße Röte in meinem Gesicht. „Mir ist schlecht“, sage ich leise und gehe langsam zum Bett zurück. Erst jetzt sehe ich die Blumen, die auf dem weißen Tisch stehen. „Gut siehst du aus, ein bisschen blass, aber das bist du ja immer“, er grinst und ich sehe seine makellosen weißen Zähne. Ganz plötzlich finde ich mich langweilig. Wie ich so da liege und ihn anstarre. Wie peinlich ist das denn, denke ich? Niemals habe ich bei ihm eine Chance. Niemals! „Geh einfach wieder“, flüstere ich und drehe mich von ihm weg. Ich höre wie er langsam aufsteht und dann… Die Tür fällt laut ins Schloss. Es ist ganz still und ich drehe mich zur Tür. Er ist weg, einfach gegangen.
Tränen steigen heiß in meine Augen, ich kann es nicht verhindern. Da ist er wieder, dieser Schmerz, diese Angst und diese Traurigkeit. Mein Vater hat früher auch oft geweint. Er dachte zuerst es sieht niemand. Aber irgendwann hat er nicht mehr versucht es zu verbergen. Ab dem Zeitpunkt habe ich gewusst, das mit ihm irgendwas nicht in Ordnung ist. Als ich meine Mutter fragte, warum Vater immer so traurig ist, hat nur mit dem Kopf geschüttelt und ist weg gegangen. So viele Fragen hätte ich gehabt, aber ich habe mich nicht mehr getraut, sie darauf anzusprechen. Ich wünschte Johannes wäre gerade hier. Er könnte mir bestimmt helfen.
Vielleicht mag er mich jetzt auch nicht mehr… Aber er ist doch mein Arzt, er muss mir doch helfen können, oder kann mir niemand mehr helfen? Bin ich wie mein Vater? Ich fühle den Verband an meinem Arm. Mit einem Ruck reiße ich ihn ab. Ich will es sehen. Sehen was ich getan haben soll. Was ich sehe kann mein Gehirn nicht glauben. Ich muss den Würgereiz unterdrücken und wende meinen Blick ab. War ich das wirklich? Und wenn ja, warum kann ich mich nicht daran erinnern? Unsanft werde ich aus den Gedanken gerissen, als es schon wieder an der Tür klopft. Schnell ziehe ich die Decke über meinen Kopf.
Die Tür geht auf. „Lilly?… Lilly, was machst du da?“ Es ist Johannes Stimme. Ich setze mich auf und sehe ihn an. Er sitzt vor dem Bett auf einem Stuhl. „Wie geht’s dir, Lilly?“, fragt Johannes und sieht mich besorgt an. „Naja… es geht.“ „Willst du mir erzählen was passiert ist?“ „Ich… ich weiß es nicht.“, bringe ich hervor. Johannes runzelt die Stirn. Ich werde nervös. „Ich kann mich an nichts erinnern“, ergänze ich. Er schüttelt langsam den Kopf. „Wenn du so etwas noch einmal machst, müssen wir dich auf die geschlossene Station bringen, verstehst du? Willst du wirklich weg von den Freunden, die du hier gemacht hast?“ Freunde… Pah! Wer braucht so was schon? Niemand hier ist wirklich mein Freund. Die, die mich nett behandeln haben doch bloß Angst! „Lilly?“, er sieht mich eindringlich an, „Hörst du mir zu?“ „Äh… ja. Klar. So was kommt nicht wieder vor.“ „Wenn es dir nicht gut geht oder irgendetwas ist, sprich bitte sofort jemanden an. Mach keine Alleingänge.“ „Jaja…“ „Versprich es mir.“ Sein Blick wird ernst. Ich schlucke. „Ich… verspreche es.“ Das kommt mir echt schwer über die Lippen.
Sein Gesichtsausdruck wird freundlicher. Innerlich fällt eine Last von mir ab. „Na gut, Lilly. Für heute bist du von deinen Pflichten befreit. Ab morgen geht es so weiter wie immer.“ „Okay…“ Uff… ich habe Besendienst; das hätte ich beinahe vergessen. Da habe ich voll keinen Bock drauf. Und eigentlich muss ich wieder zur „Schule“. Diese scheiß Schule hier in der Klapse. Mit den anderen Verrückten von der geschlossenen Station in einem Raum. Da geht alles drunter und drüber. Er steht auf und geht zur Tür. „Wir sehen uns morgen zu unserem Gespräch, Lilly. Mach bitte keinen Unsinn.“
„Okay. Bis morgen“, sage ich und versuche zu lächeln. „Bis morgen, Lilly.“ Ich lasse meine Beine vom Bett baumeln. Das ist doch alles scheiße. Warum kann ich nicht einfach normal sein? Ich mache eine Faust. So fest, dass es weh tut. Überzeugt davon, dass ich das Richtige tun werde, stehe ich auf, gehe zur Tür und drücke die Klinke herunter.
Langsam öffne ich die Tür und stehe auf dem Flur. Warum ist denn alles so still? Ich höre ein leises Flüstern und werde neugierig. Ja – es kommt eindeutig aus der Küche. Leise schleiche ich über den Flur, weiter zur Küche um besser hören zu können. Es ist Johannes und Mechthild, meine Betreuerin, aber warum wird hier geflüstert? Ich versuche noch etwas näher ran zu schleichen und jetzt höre ich ganz genau, dass sie über mich reden. Wusste ich es doch! Diese falsche Schlange! Diese hässliche alte Kuh hat nichts besseres zu tun als über mich her zu ziehen. Ich versuche noch ein Stück näher heran zu kommen um besser hören zu können. „… in drei Tagen wird sie schon 17. Ich weiß nicht ob wir mit der Medikation weiter machen können, vielleicht sollten wir sie schon als Erwachsene einstufen. Dann hätten wir ganz andere Möglichkeiten“, sagt Johannes und ich sehe Mechthild mit dem Kopf nicken.
So eine große Scheiße, denke ich und versuche meine Gedanken zu sortieren. Was bedeutet das nur? Andere Pillen? Stärkere? Oder stecken die mich womöglich in die Geschlossene? Vielleicht sogar zu den Erwachsenen?! Tränen laufen mir übers Gesicht und ich renne zurück in mein Zimmer. Was jetzt, was soll ich tun? Mein Kopf tut so weh, das ich anfange an meinen Haaren zu reißen. Für kurze Zeit hilft das und ich reiße immer fester. Plötzlich klopft es an der Tür und ich schaue auf meine Hand. Ich halte ein dickes Bündel Haare in meiner Faust, unfähig sie zu öffnen. „Lilly, schläfst du schon?“ fragt Mechthild. „Hau ab, lass mich bloß in Ruhe“, schreie ich die Tür an, aber sie kommt einfach herein.
Sie schaut auf meine Hand, grinst mich an und geht wieder raus. Ich denke noch, jetzt holt sie Johannes, aber nichts passiert. Was ist hier eigentlich los? Das war doch Mechthild, sie arbeitet hier, oder nicht? Ich stehe auf sehe in den Spiegel, ein kleines Rinnsal Blut läuft an meiner Nase entlang. Das ist mein Spiegelbild, das bin ich! Aber wer zum Teufel ist sie?